Alles neu macht der Mai

Von Felix Feigenwinter

 

Als Arbeitslose findet sie genügend Zeit, durch die Natur zu streifen. Sie bewundert das vegetative Wuchern, erlebt einen langen, warmen Sommer. Inzwischen wurde auch ihren früheren Arbeitskollegen gekündigt. Das Unternehmen ist in Konkurs geraten. Die Rezession, ein dramatischer Wachstumsrückgang, habe das Geschäft ruiniert, bekommt die bestürzte Belegschaft zu hören. Als Monika die Nachricht vernimmt, schüttelt sie ungläubig den Kopf: die Natur spriesst und gedeiht immer noch... Wachstum soll nicht mehr möglich sein!?

Gelassen erwartet sie den Herbst. Obwohl sie fast täglich neue Bewerbungen verschickt, will niemand sie anstellen. Im Postfach häufen sich die Absagen. Nach und nach weicht die Gelassenheit der Angst. Monika Röösli fühlt sich unerwünscht. Der Gang zum Arbeitsamt, zum Postfach wird zum alltäglichen Schrecken. Erste Obdachlose liegen in Wolldecken gehüllt mitten in der Stadt auf dem Trottoir.

Monika beginnt sich laut Gedanken zu machen, wie lange sie noch die Wohnungsmiete aufbringen könne. Auf die Bemerkung, sie wisse nicht, was sie tun solle, wenn die Zahlungen des Arbeitslosengeldes eingestellt würden, grinst ihr Wohnungsvermieter: "Dann können sie den Strich machen!" "Pfui Teufel", antwortet Monika, auf keinen Fall würde sie das, lieber würde sie verhungern!

Ein früherer Arbeitskollege, nun selber arbeitslos, macht ihr ein Kompliment: Sie sei schöner geworden.

Not macht schön.

Auch ihr unterdessen frühpensionierter ehemaliger Vorgesetzter, der ihr in der Nähe des Arbeitsamtes über den Weg spaziert, überschüttet sie mit Komplimenten. Zum Glück sei das Arbeitsamt noch nicht privatisiert worden und bankrott gegangen, erwidert Monika spitz. - Ihr Galgenhumor klinge zynisch, rügt der Frührentner; sie solle nicht aufhören, positiv zu denken, immerzu - was auch geschehen möge.

Vor Weihnachten sieht man Monika im Schneegestöber Tannenbäume verkaufen. Die Wintertage kann sie überleben. Im Schlaf trotzt sie den langen, kalten Nächten.

Der einst  seriöse Familienvater Ruedi Müller, der ihr noch vor wenigen Monaten das Kompliment gemacht hatte, sie sei schöner geworden, erscheint eines Morgens stockbetrunken auf dem Arbeitsamt und kotzt dem Stempelbeamten aufs Pult.

An einem trüben Februarmorgen bringt Monika ihre zwei Katzen einer Nachbarin. Die rüstige Greisin bezieht eine Rente und kann die Tiere durchbringen. Monika hat Angst, einsamer zu werden als die alte Frau.

Einige Wochen später findet sie zwischen Absagebriefen die Anzeige eines eingeschriebenen Briefes ihres Wohnungsvermieters. Die Wohnung muss sie verlassen. Das Haus wird verkauft und soll einem Neubau weichen. Der Wohnungsvermieter zieht sich in die Karibik zurück. Als Geschäftsmann sei es ihm in der Schweiz zu unsicher geworden. Statt schwierigen Geschäften nachzurennen beabsichtige er nun, ewige Ferien zu machen, erklärt er ihr im Treppenhaus.

Der nächste Frühling steht schon bevor.