Schreien Sie auch?

Von  Felix Feigenwinter

Schreie können Emotionen freisetzen, die seit der Kindheit verdrängt worden sind; und die Freiheit, die man daraus gewinnt, kann sich als entscheidender positiver Persönlichkeitswandel auswirken.

Diese abenteuerliche Erkenntnis stammt nicht etwa von mir, sondern vom Psychiater Daniel Casriel, seines Zeichens Erfinder der "Schreitherapie" und Verfasser des Buches "Die Wiederentdeckung des Gefühls". Der amerikanische Arzt besuchte in diesem Sommer auch die Schweiz, und durch die Räume des vornehmen Zürcher Hotels Atlantis liess er während drei Tagen markerschütternde Schreie gellen. "Unter Leitung des Psychotherapeuten aus New York schreien seit gestern 50 Schweizer im 'Atlantis' um die Wette", berichtete eine Zürcher Tageszeitung, und sie informierte auch über den wirtschaftlichen Aspekt dieser Veranstaltung; Kostenpunkt für den dreitägigen Workshop: 250 SFR pro Teilnehmer.

Das Bedürfnis zu solchen Übungen scheint gross zu sein; Dr. Casriel und seine Berufskollegen können sich über mangelnde Kundschaft nicht beklagen. Der Hintergrund ist klar: "Wir leiden unter Einsamkeit und Entfremdung, weil wir des ersehnten Kontakts mit anderen Menschen beraubt worden sind." Denn: "unsere Kultur hat eine Bevölkerung geschaffen, die in unterschiedlichem Ausmass emotional gestört ist. Menschen sind entfremdet, weil sie anderen nicht genügend Vertrauen schenken können, um ihnen ihre echten menschlichen Gefühle zu zeigen. Werden diese überlebensorientierten Gefühle jedoch unterdrückt, dann kommt es zu verschiedenen Arten von Krankheiten, die sich symptomatisch in Form von defekten Emotionen, Einstellungen und Verhaltensweisen äussern."

Casriel bemängelt, dass nur wenige Psychiater und Psychologen das Wesen der Kultur und die ungeheuren Folgen ihrer Wirkung auf jeden Menschen anerkennen - und dass "das psychiatrische Denken nur in bescheidenem Mass von dieser Fülle neuer Informationen beeinflusst worden" sei. Er stellt die klassische, nach wie vor rege praktizierte Psychoanalyse als untaugliches Mittel dar, indem er ihre Wirksamkeit mit einer "Zahnbürste für einen Flachmaler, der ein Haus anstreichen muss" vergleicht. Nach klassischer Analyse-Art jahrelang auf der Couch über Emotionen zu reden, findet der Psychiater aus Amerika, sei dasselbe, als wolle man ein Gemälde mit dem Gehör verstehen.

Stattdessen bietet Dr. Casriel nun seine Gruppen-Schrei-Therapie an. Sie soll ermöglichen, das Bedürfnis des Menschen zu erfüllen, "mit anderen verbunden zu sein, indem sie ehrlich ihre Emotionen zeigen und sich in die ehrlichen Gefühle einfügen."

So weit so gut. Was geschieht aber mit den sich durch Schreien befreit habenden Patienten, wenn sie aus Casriels Schrei-Oase wieder in den grauen, viel Disziplin erforderlichen Alltag zurückkehren: In die technokratisch geplanten Lebens-, Wohn- und Arbeitsverhältnisse, wo ehrliche Gefühle und individuelle menschliche Bedürfnisse, die viel älter sind als unsere Zivilisation, in der Regel weder vorgesehen noch erwünscht sind?

Nun verspüre auch ich den Drang, hin und wieder loszuschreien. Da unterscheide ich mich kaum vom "kulturgeschädigten Durchschnittsbürger", für welche Casriels Therapie empfohlen wird. Dass ich mich trotzdem nicht Dr. Casriel anvertraue, hat einen ebenso einfachen wie praktischen Grund: als Fussballfan und FCB-Sympathisant sehe ich beim besten Willen nicht ein, warum ich für eine einmalige Casrielsche Schrei-Therapie 250 Franken hinblättern soll, wenn ich mir je 90-minütige analoge Erlebnisse für den gleichen Geldbetrag über dreissigmal pro Fussballsaison beschaffen kann!

Die "zornigen Auseinandersetzungen", das "schmerzliche Schluchzen" und die "Beschimpfungen in der Gossensprache" - aber auch "die Umarmungen, Berührungen und anderen Äusserungen der Zuneigung und Liebe", welche Dr. Casriel in seinen Schrei-Therapien nach eigenen Worten auslöst, sind nämlich (zum Beispiel) auch im St. Jakobs-Stadion zu erleben - wieder ab 13. August, mit Beginn der Fussball-Meisterschaft, fast alle 14 Tage (oder auch häufiger), und zu (relativ) volkstümlichen Preisen...  

(Erschienen im "doppelstab", 6.8.1977)