Der Widerstand betroffener Arbeiter und massgeblicher Schweizer Politiker gegen den Beschluss der amerikanischen Konzernleitung, das Firestone-Werk in Pratteln zu schliessen, stösst in einem Kommentar der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" auf Unverständnis. Sensibilität für schweizerische Befindlichkeiten fehlt.

 "doppelstab" Montag, 10. April 1978


Der "Aufstand von Pratteln" - ein Kuriosum?

Von Felix Feigenwinter


Die Mitte dieser Woche nach Amerika reisenden basellandschaftlichen Regierungsräte Paul Manz und Paul Nyffeler sind nun also vom Kantonsparlament in Liestal ermächtigt worden, im Rahmen ihrer Verhandlungen in Akron (Staat Ohio) "gegebenenfalls Verpflichtungen zulasten des Staates einzugehen" (das heisst gezielte Förderungsmassnahmen anzubieten, die selbstverständlich nachträglich durch den Landrat noch genehmigt werden müssten). Diese parlamentarische Vollmacht, zusammen mit der in einer Resolution zum Ausdruck gerbrachten verbalen Unterstützung, verleiht den beiden Baselbieter Politikern die nötige materielle Verhandlungsfreiheit, aber auch einen willkommenen moralischen und politischen Rückhalt, wenn sie in ihren zweifellos harten Verhandlungen mit der amerikanischen Firestone-Konzernleitung versuchen werden, den Entscheid der Multi-Manager rückgängig zu machen. Alles weist darauf hin, dass die schweizerischen Verhandlungsdelegierten - umgekehrt allerdings wohl auch die Firestone-Konzernleitung - harte Nüsse werden knacken müssen.

Skepsis...

Die Ausgangslage mag zwar relativ rosig erscheinen im Licht der Solidarität sämtlicher politischer Parteien im Kanton Baselland, der Kantonsregierung und letztlich auch auf eidgenössischer Ebene durch den (freisinnigen) Vorsteher des Volkswirtschaftsdepartementes, Bundesrat Honegger. Sie alle bekräftigen die Forderung der Personalvertreter und Gewerkschaften, die Pratteler Arbeitsplätze durch Aufrechterhaltung der Produktion zu retten. Diese tatsächlich beeindruckende und wohl auch einzigartige Einigkeit macht sicher stark. Sie darf aber nicht hinwegtäuschen, dass man es im fernen Amerika mit Verhandlungspartnern zu tun hat, deren Entscheidungen Milliarden-Umsätze und nicht die Schicksale von einigen hundert "fremden" Arbeitnehmern zugrundeliegen. Rudolf Bächtold hat diese Realität letzte Woche in der Zürcher "Weltwoche" wie folgt beschrieben:

"Ist der Schweizer Minibetrieb (Konzernumsatz etwa drei Prozent) im weltweiten Multi-Puzzle nochmals eine Überlegung wert? Eines ist gewiss: mit leeren Händen, ohnen konkrete Vorschläge, belegt auf Dollar und Cent, ist das Wiedererwägungsgesuch von vornherein aussichtslos. Nur Zahlen können in den USA überzeugen. Gerade da aber ist die Schweizer Position schwach. Zuviel wurde in Pratteln (und Akron?) seit l973 verspielt, als dass unbesehen auf einen baldigen Wiederaufschwung gehofft werden könnte. Und das weiss man natürlich auch jenseits des Atlantiks."

...und reiner Zynismus

Was in der "Weltwoche" zu einer skeptischen, um nicht zu sagen pessimistischen Beurteilung führte, machte sich der Kommentator einer ausländischen - bundesdeutschen - Zeitung zu eigen: Seine schnnoddrige Betrachtungsweise deckt sich offensichtlich mit jenem nackten Zynismus, mit welchem in Akron der Entscheid gefällt worden ist, der sechshundert Arbeitnehmern im Baselbiet (die sich notabene seit drei Jahren durch persönliche Opfer für die Erhaltung der Produktionsstätte in Pratteln speziell engagiert haben) mit einem Schlag die Stelle kosten soll.

Doch lesen Sie selbst, was dieser Tage in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" über die schweizerische "Aktion in Akron" zu lesen stand:  

"Nicht nur in Amerika, sondern wohl überall in der Welt wird man den geplanten diplomatischen Vorstoss wohl eher als ungewöhnliches Kuriosum empfinden",

meint der betreffende Wirtschaftsjournalist der "FAZ". (Die Zwischenfrage sei erlaubt: Gehören Pratteln, das Baselbiet und die Schweiz nicht mehr "zur Welt"?) Und weiter erfahren die Leser des Wirtschaft-Teils dieses gewichtigen Presseorgans:

"Warum gehen die Schweizer gegenüber Firestone so massiv vor? Die Arbeiter haben den Gummibetrieb vorübergehend sogar besetzt. Sie fordern die Aufrechterhaltung der Produktion um jeden Preis."

Aber es wird noch besser: Der mittlerweile hochoffizielle, vielfältig untermauerte Widerstand gegen die geplante abrupte Betriebsschliessung wird in der "FAZ" als "Aufstand von Pratteln" gebrandmarkt, bei dem es - man höre und staune - "um höchstens 600 Arbeitskräfte geht, die wahrscheinlich in den benachbarten Betrieben der Basler Grosschemie bald wieder unterkommen werden." Die schweizerische Reaktion auf den Firestonebeschluss wird weiter als "übersensibel" bezeichnet, und zum Schluss bettet der "FAZ"-Schreiber den "Fall Firestone" in die grosse, anonyme Weltwirtschafts-Landschaft ein, in welcher jedes regionale Problem - und erst recht jedes menschliche Schicksal - zur Bagatelle wird:

"Wenn schon die Schweiz , mit Vollbeschäftigung und einem Milliardenüberschuss in der Zahlungsbilanz, wegen Pratteln derart klagt, was sollen da erst die vielen anderen Länder sagen, die heutzutage von echten wirtschaftlichen Schwierigkeiten geplagt werden? Fürwahr, ein Kuriosum, mit dem man es in Pratteln zu tun hat."

Kein Wort davon, dass die in den USA geplante Schliessung der Pratteler Pneufabrik das grösste Unternehmen des Kantons Basel-Landschaft trifft, das seinen Personalbestand schon im Verlauf der letzten vier Jahre von 1450 auf 837 reduziert hatte; dass etwa fünf Sechstel der betroffenen Arbeirtnehmer Ungelernte und Angelernte sind, die es bei einem Durchschnittsalter von 45 Jahren schwer haben, einen neuen Arbeitsplatz zu finden - oder dass man auch in der Region Basel die Arbeitslosigkeit seit einigen Jahren kennt, freilich nicht in dem Ausmass wie in der Bundesrepublik Deutschland, die für die Schweiz in dieser Beziehung auch nicht als Vorbild gilt.

Baselbieter Standpunkt klarmachen

Die bange Frage drängt sich auf: Wie verständnislos werden sich erst die Gesprächpartner im fernen amerikanischen Staat Ohio zeigen, wenn bereits im europäischen Nachbarland BRD die Sensibilität für die Probleme des Pratteler Firestone-Personals und die spezifischen Eigenarten regionalschweizerischer Strukturen vollständig zu fehlen scheint und die hiesigen öffentlichen Solidaritäts-Kundgebungen von "links" bis "rechts", inbegriffen die offizielle Stellungnahme des zuständigen Regierungsvertreters, im "freundnachbarlichen" Kommentar süffisant belächelt werden?

Was jetzt zählt, ist die Entschlossenheit der schweizerischen Delegation, den Amerikanern den basellandschaftlichen und eidgenössischen Standpunkt unmissverständlich klarzumachen. Die beiden nach Akron reisenden Regierungsräte (Abflug am Mittwoch dieser Woche) werden neben ihrer "Bestürzung" und "Sorge" über den Manager-Entscheid auch ihre "Erbitterung" über den von der amerikanischen Konzern-Leitung begangenen Wortbruch zum Ausdruck bringen. (Nach Auskunft von Paul Manz an der letztwöchigen Landratssitzung wird vom Bund aus abgeklärt, ob internationale Vereinbarungen verletzt worden sind.)

Letztlich wird es nicht darum gehen, einen Prestigekampf auszufechten. Oberstes und schwierigstes Ziel wird es sein, die Arbeitsplätze zu sichern - oder zumindest erträgliche Abgangsbedingungen auszuhandeln. Die Walze der Globalisierung droht regionale Interessen plattzudrücken; Sensibilität für schweizerische Befindlichkeiten kann nicht vorausgesetzt werden.