"Vo nüt chunnt nüt!"

Von Felix Feigenwinter

Ich kenne keinen würdigeren Vertreter schweizerischer Arbeitsmoral als meinen ehemaligen Lehrer Valentin Stämpfli. Zielbewusst erzog er uns zum spartanischen Verzicht auf alles, was er für "unnützen Zeitvertreib" hielt. "Unnützer Zeitvertreib" war jede Tätigkeit - und selbstverständlich erst recht jedes Nichtstun - , die keinen AHV-pflichtigen Lohn erzielte. Einziger Zweck unseres Daseins war in Stämpflis Vorstellung die materielle Absicherung des späteren Rentnerlebens. So verstand er die Schule als eine Ausbildungsstätte für Generationen pflichtbewusster AHV-Beitragszahler. Nichts unterließ er, um uns Arbeitsdisziplin und Ehrfrucht vor dem Drei-Säulen-Konzept der Altersvorsorge einzutrichtern. Unter dem Motto "Vo nüt chunnt nüt!" führte er seine gefürchteten Noten-Schriftlichen durch und überhäufte uns mit Hausaufgaben, die unsere Freizeit in anstrengende Leistungssitzungen verwandelten. "Vo nüt chunnt nüt!" hieß für Herrn Stämpfli: unentwegtes Chrampfen bis zur Erreichung des AHV-Alters.

Aber nicht, dass Sie jetzt denken, Herr Stämpfli sei ein schmarotzerischer Heuchler gewesen, der andere zu verbissener Arbeit angehalten hätte, um sich selbst ein um so genüsslicheres Leben zu verschaffen! Nichts von alledem. Jahrzehntelang büffelte er in seiner Freizeit an seinem Lebenswerk, das er unter dem Titel "Ohne Fleiß kein Preis" als Buch herauszugeben beabsichtigte. Da kein Verleger Interesse bekundete, gründete Stämpfli schließlich einen Selbstverlag. Wenige Tage nach der Auslieferung seiner Bücher besuchte ich den kurz vor seiner Pensionierung stehenden Lehrer in seiner Wohnung. Er saß an seinem Schreibpult zwischen den Büchertürmen und wirkte irgendwie verklärt. "Die dritte Säule meiner Altersversorgung", erklärte er mir, indem er auf die hoch aufgeschichteten Folianten zeigte. In seinem sonst so zerquälten Antlitz bemerkte ich zum erstenmal den Anflug eines stolzen Lächelns. Die Aussicht, das Lebensziel bald erreicht zu haben, schien ihn zu entspannen. Ihn, der sich sogar in seinen langen Schulferien jegliches Ausspannen versagt hatte! Noch mussten für die Bücher allerdings Leser gefunden werden - und Buchhändler, die gewillt waren, das Werk unter die Leute zu bringen...

Eine Woche nach meinem Besuch in Stämpflis bücherverstelltem Heim kippte einer der Türme. Nicht dass die Bücher Herrn Stämpfli erschlagen hätten, aber der Schreck über den Einsturz der dritten Säule brachte sein angegriffenes Herz offenbar zum Stillstand. So fand er doch noch seine Ruhe, wenngleich anders als lebenslang geplant.

An Stämpflis Beerdigung begegnete ich mehreren früheren Schulkameraden. Mit pflicht- und fleißzerfurchten Gesichtern stämpflischer Prägung umstanden sie das Grab des verehrten Lehrers. Die einzig lockere Gestalt an dieser Beerdigung war Fridolin;  er hatte sich kaum verändert. Als wir uns einst in Stämpflis Klassenzimmer über unsere Grammatikschriftlichen beugten, lehnte sich Fridolin lässig zurück und zeichnete Vögel: Tauben, Schwäne und Störche. Das war seine Spezialität - und das einzige, was er in der Schule wirklich konnte: Vögel zeichnen. Fridolin hat nie eine Abschlussprüfung bestanden, beendete somit auch nie eine Berufslehre, und aus der Rekrutenschule kehrte er - wen wundert's! - bereits nach drei Wochen zurück. Er wurde "miltitärdienstuntauglich"  erklärt. Auch die Arbeitsstellen, die er von Zeit zu Zeit antrat, verließ er bald unverrichteter Dinge.         

Später traf ich ihn einmal sonntags im Zoologischen Garten, wohin ich mit meiner Frau und  den Kindern spaziert war. Fridolin saß auf einer Bank und zeichnete Störche. Nach einigem Zögern kaufte ich ihm ein Bild ab. Er gestand mir, dass er davon leben müsse. Ein anderes Einkommen habe er nicht.

Einige Jahre danach berichtete mir meine Frau, als ich abends vom Büro nach Hause kam, sie habe Fridolin in der Stadt getroffen. Es gehe ihm jetzt gut, er beziehe eine Invalidenrente, und im Rahmen der Ergänzungsleistungen seien ihm für mehrere tausend Franken die Zähne saniert worden. Auch kleide er sich jetzt gepflegter als früher, und er mache sich bei Frauen beliebt. Jedenfalls werde er häufig von Damen zum Essen eingeladen, wie er ihr anvertraute. Anders als die Männer, die während neun Stunden täglich im Büro sitzen, habe er nun eben viel Zeit, in Cafés zu flirten. Er wisse stets drollige Geschichten zu erzählen. Dem Bericht meiner Frau musste ich entnehmen, dass sich Fridolin vom Clochard zum Gigolo entwickelt hatte.

Gestern nun, als ich auf meinem Velo zur Arbeit fuhr, habe ich ihn selber gesehen. Vor dem Rotlicht, wo ich mein Zweirad abstoppte, hielt neben mir ein schnittiger Sportwagen. Der Mann, der die Autoscheibe herunterkurbelte, um mich grinsend zu grüßen, war Fridolin. Neben ihm saß eine junge Dame am Steuer, die ich als "sehr gut aussehend" bezeichnen möchte. Sie schien auch sonst nett zu sein; jedenfalls lächelte sie mir freundlich zu. "Brigitte, meine Braut", stellte sie mir Fridolin vor, der übrigens tatsächlich in eleganten Kleidern steckte. "Übermorgen fliegen wir in die  Flitterwochen!" Sie werden verstehen, dass ich einigermaßen verdattert war! "Wie verdient man solches Glück?" konnte ich nur noch stottern. Fridolin lehnte sich zurück, bleckte vergnügt sein makelloses Gebiss: "Vo nüt chunnt nüt!" Dann  wechselte das Ampellicht auf Grün, und das glückliche Paar brauste fröhlich winkend davon.

 

(Erschienen in der "Ciba-Geigy-Zeitung" am 4. Febr.1986)