„Baslerstab“ 1996

Felix Feigenwinter:

Wenn das Käfighuhn ein Habicht werden soll

Darf man von einem Batteriehuhn Lebenstüchtigkeit erwarten? Eine Verbesserung der Lage, indem man die Batterie mit der Bodenhaltung oder, noch besser, mit der Auslaufhaltung vertauscht, würde diesen gefiederten Freunden zweifellos nur zum Nutzen und zur Freude gereichen. Würde ein Batteriehuhn jedoch zum Wildhuhn befördert und es würde unvorbereitet und schutzlos in die freie Natur ausgesetzt, geriete es vermutlich in arge Existenznöte. Da in seinem bisherigen Gefängnisleben die entsprechenden Instinkte und Fertigkeiten verkümmerten, dürfte es Schwierigkeiten bekunden, sein Futter selbst zu finden und sich der Verfolgung durch diverse Raubtiere geschickt zu entziehen.

Wie zur Bestätigung des so vielfach beschworenen "Mut-zum-Aufbruch" ist es trotzdem eine Tatsache, dass immer mehr "Batteriehühner", will sagen Angestellte, dem Ruf zur Überwindung des Besitzstandsdenkens folgen und den abenteuerlichen Weg in die Selbständigkeit beschreiten. Noch nie wurden in der Schweiz so viele Unternehmen gegründet wie in der letzten Zeit. Nicht wenige der (zum Teil auch schon ergrauten) Jungunternehmer sind freilich ehemalige Arbeitslose oder von Arbeitslosigkeit Bedrohte, die gewissermaßen die Flucht nach vorn antraten.

Natürlich wäre es reiner Zynismus, zu behaupten, ein Leben als selbständigerwerbender Unternehmer könne mit Sicherheit ein zufriedeneres und einfacheres Leben garantieren. Der Schritt vom Batteriehuhn zum Freiwild sollte sorgfältig vorbereitet werden. Dazu dienen diverse Beratungsstellen und Schulungsmöglichkeiten. Näheres darüber, nützliche Informationen zur Gründung einer eigenen Firma, sind dem "Beobachter"-Ratgeber "Ich mache mich selbständig" zu entnehmen, welcher seit  kurzem im Buchhandel erhältlich ist.

Die Beantwortung der folgenden - eher psychologischen - Frage  habe ich darin allerdings nicht gefunden: Wie beschwichtigt ein langjähriger Angestellter, der unerwartet den Sprung in die Selbständigkeit wagt, seine in der Batteriehuhnhaltung verbleibenden Mitarbeiter? Mein Rat: Geben Sie Ihren untröstlichen Kolleginnen und Kollegen doch einfach zu verstehen, Sie fühlten sich in der Batteriehuhnhaltung nicht mehr wohl, da Sie im Begriff seien, sich vom Batteriehuhn zum sagen wir Habicht zu mausern. Der Erfolg wird nicht ausbleiben: Keine und keiner wird mehr versuchen wollen, Sie auf dem Stängelchen beziehungsweise im Käfig zu halten. Denn welches Huhn hält sich schon gern in der Nähe eines werdenden Habichts auf?