DAS PRODUKT

Von Felix Feigenwinter

 

Im Museum, wo der ewige Geschichtsstudent Michael Merz als "Mädchen für alles" wirkt, erscheint eines Nachmittags eine mit einer Kamera ausgerüstete Fremde, die im Auftrag des Museumsdirektors das Personal für einen Museumsprospekt porträtieren soll. Weil Michael hier nur halbtags arbeitet, dies freilich schon während etlichen Jahren, fühlt er sich im Kreis der ganztags Beschäftigten immer ein wenig verloren. Dankbar erlebt er die Ankündigung des Fototermins einige Tage zuvor während einer Kaffeepause vor versammelter Belegschaft; der Museumsdirektor scheint ihn nicht auszuschliessen. Kurz vor dem Eintreffen der Fotografin bindet sich Michael eine Krawatte um, um besonders adrett auszusehen - eine für ihn atypische Anwandlung von Koketterie. Doch dann fordert ihn die Fotografin auf, zu lächeln statt düster in die Linse zu starren, wie sie sich ausdrückt, und Michael, der freundlich und erwartungsfroh geguckt zu haben glaubte, bekennt: "Ich bin schwermütig, lache selten!"

"Sie sind ein Produkt!", belehrt ihn hierauf die in einer Werbeagentur angestellte Fotografin, und Michael denkt: Jetzt wartet sie, bis ich mein Gesicht zur Grimasse verziehe. "Was bevorzugen Sie, mein Zahnpastagrinsen oder mein Valiumschmunzeln?", ringt er sich zu einem Witzchen durch und zeigt demonstrativ seine Zähne.

Die Fotografin bittet ihn, etwas übers Museum zu erzählen, was Michael vermuten lässt, davon erhoffe sie sich eine Lockerung seiner verspannten Gesichtsmuskulatur.

"Wie Sie wünschen", antwortet er nun ebenso trotzig wie ratlos, aber plötzlich spürt er eine Euphorie aufkommen, was seine Gedanken phantasievoll spriessen lässt, und aus dem Stegreif improvisiert er  eine Geschichte   (Bedenken, deren Inhalt würde vielleicht den guten Geschmack verletzen, den der Museumsdirektor seinem Personal im Umgang mit Museumsbesuchern und der Öffentlichkeit immer wieder anmahnt, beschleichen ihn erst im Nachhinein):

"Die Särge morbider Alltäglichkeiten barsten unter dem Einfluss hemmungsloser Ueberschwemmungen, hervorgerufen durch unerwartetes Beben", beginnt Michael seine Rede; "es entstiegen den Fluten unbekannte Gestalten mit blicklosen Augen, kopflos zum Teil, mit rätselhaften Bewegungen scheinbar ziellos umherstreunend. Überlebende Bürger, durch rechtzeitiges Besteigen einer aus dem Wasser ragenden historischen Stadtmauer dem Ertrinkungstod entkommen, zogen die beunruhigenden fremden Wesen ins Trockene. Dann ordneten und beschrifteten sie sie mit vernünftigen Bezeichnungen. Hierauf setzten sie sie in Kondensgläser und hängten sie in Rahmen, um sie dergestalt in einem eigens dafür geschaffenen Museum der Nachwelt zu erhalten. Erst mit dem Vorbeirauschen der Jahre fiel auf, dass die fremdartigen, doch jetzt ordentlich benannten Wesen sukzessive Blicke entwickelten, die auf den Museumsbesuchern zu ruhen begannen. Als Ausstellungsobjekte verdächtigt liessen die Bürger das Museum schliessen."

Während Michael spricht, knipst die Fotografin ununterbrochen; endlich scheint sie mit ihm zufrieden zu sein.

Nur wenige Wochen später erfährt er, dass der Aufwand vergeblich war: Erste Exemplare des neuen Prospekts werden verteilt, und Michael sucht vergeblich nach dem Foto, das ihn beim Erzählen seiner irrealen Geschichte zeigt. An der Vernissage zur Wechselausstellung, an welcher der neue Prospekt der Öffentlichkeit vorgestellt werden soll, verrät ihm die  ebenfalls eingeladene Fotografin während des Apéros im Museumsfoyer, sein  Porträt habe man auf ausdrücklichen Wunsch des Auftraggebers - also des Museumsdirektors - bei der Gestaltung des Prospekts absichtlich nicht berücksichtigt. Der gedemütigte Michael versucht, die  Enttäuschung zu verbergen und erklärt der Fotografin selbstironisch: "Weil ich nur halbtags angestellt bin, bin ich offenbar kein geeigneter Museumsrepräsentant. Also doch kein vollwertiges Produkt..."  Die Fotografin betrachtet ihn mitleidig, meint achselzuckend: "Sie sind ein  kleiner Pechvogel!", und wendet sich einem anderen Gesprächspartner zu.

Michaels Freude ist nun endgültig verflogen. Er verspürt auch keine Lust mehr, bis zu der zu erwartenden knorrigen Ansprache des Museumsdirektors auszuharren. Noch während drei Musikerinnen ihre Instrumente für ein kleines Begrüssungskonzert stimmen, schleicht er sich aus dem Foyer, wo sich die Vernissagegäste eng drängeln,  und verzieht sich ins ihm vertraute Museumsarchiv, wo er sich am langen Tisch niederlässt, auf dem  seit Tagen vergilbte Dokumente aus dem Nachlass eines verstorbenen Donators auf Sichtung harren. Hier lauscht er den Musikklängen der drei schönen Frauen, die im Foyer ihr Konzert zelebrieren. Dabei fällt sein Blick durchs Fenster auf das Dach eines Nachbarhauses, wo auf einer Fernsehantenne zwei grosse schwarze Vögel sitzen, die ihn durch die Glassscheibe zu beobachten scheinen.

Michael hebt die Hand wie zum Gruss, steht auf und beginnt zur Musik zu tänzeln. Zärtlich, geradezu verzückt bewegt er sich durchs Museumsarchiv. Während er innehält und wieder hinaussieht, bemerkt er, wie sich die Raben flügelschlagend im Takt der Musik zu drehen beginnen. Eine Frauenstimme holt ihn aus seiner Verzauberung. "Entschuldigen Sie", hört er, "ich habe mich verirrt. Ich suche das WC. Sie feiern ganz alleine hier... Tanz eines Unglücksraben?" Jetzt erst sieht er die Fotografin, die mit spöttischem Grinsen im Türrahmen steht.

Michael reagiert gelassen. "Ihr schiefer Humor hat mir gerade noch gefehlt", erwidert er trocken. Dann weist er der Frau, an deren Brust eine Leica hängt, galant lächelnd den Weg zur Toilette.