Basler Volksblatt“ 22. August 1964
Arbeiterkolonie Dietisberg: Vom Intellektuellen bis zum Analphabeten

Von Felix Feigenwinter

 

Die Gesetze der Natur sind hart: die Starken verdrängen die Schwachen.“ Dies sagte zu mir der Verwalter der Arbeiterkolonie Dietisberg ob Läufelfingen, G. Thomet, als ich im Schweinestall der Kolonie einen Wurf neugeborener Schweinchen betrachtete. Eines der Tiere sah furchtbar dünn und schwächlich aus und wurde von seinen stärkeren Geschwister ständig zur Seite gedrängt; es bestand wenig Hoffnung, dass es überlebte.

Das Verwalter-Ehepaar Thomet muss sich mit dem harten Naturgesetz jeden Tag neu auseinandersetzen – nicht nur wegen der Tiere in den Ställen, sondern vor allem auch wegen der vierzig in der Kolonie lebenden Männer zwischen 20 und 70 Jahren, die wie das dünne Ferkel aus dem Kreis seiner Geschwister, aus der freien menschlichen Gesellschaft ausgestossen wurden.

Von Belgrad nach Paris geschmuggelt

Einige dieser Menschen seien mit Anlagen geboren worden, die sie zu Aussenseitern stempelten; andere seien durch ein ungünstiges Milieu geprägt worden, in dem sie aufgewachsen seien. Verwalter G. Thomet berichtet, dass es unter den Kolonisten viele (ehemalige) Alkoholiker hat – Männer, die ihre Schwierigkeiten im Alkohol zu ertränken versuchten, dabei aber erst recht scheiterten. Die Arbeiterkolonie beherberge viele „kleine Glunggi“, wie sie der Verwalter liebevoll nennt (früher hätte man einige von ihnen vielleicht als „Arbeitsscheue“ bezeichnet), administrativ oder durch ihre Verwandten Eingewiesene; ausserdem freiwillige Pensionäre, die in dieser geschützten Nische ihr Leben fristen. Daneben kann man auf den Feldern, in den Gärten und in den Werkstätten der Kolonie auch Verwahrungsgefangenen begegnen, die als Gewohnheitsverbrecher (aber nicht als „Schwerkriminelle“) für unbestimmte Zeit aus der freien Gesellschaft ausgegrenzt wurden, ferner von der eidgenössischen Polizeiabteilung eingewiesene Ausländer, deren Identität abgeklärt werden muss. So zum Beispiel sechs Abenteurer aus Jugoslawien, die sich unter einem Eisenbahnwagen von Belgrad bis Paris geschmuggelt hatten und anschliessend in die Schweiz gekommen waren mit der Behauptung, sie hätten ihre Ausweispapiere verloren.

Kritische Tage um Weihnachten und Ostern

Verwalter Thomet ist von Beruf Landwirt. Weil er die Kolonisten nicht nur bei der Arbeit überwacht, sondern sie auch persönlich betreut, muss er auch ein guter Menschenkenner sein. Unter den 5300 Männern, welche die Kolonie seit ihrer Gründung vor 60 Jahren bisher beherbergte, befinden sich Intellektuelle mit akademischem Grad, Analphabeten, Nihilisten, religiöse Fanatiker – kurzum grundverschiedene Individuen, von denen ein jeder persönlich verstanden werden will. Frau Thomet erzählt mir, dass die Kolonisten vor allem an Feiertagen wie Weihnachten und Ostern besonders „schwierig“, das heisst depressiv oder aggressiv und innerlich unruhig werden, weil ihnen ihr Schicksal der Isolation, ihren Ausschluss von einem privaten, familiären Leben dann besonders bewusst würde.

Arbeitsfreude wecken
 

Den Anstoss zur Gründung der Arbeiterkolonie Dietisberg gaben vor 60 Jahren Niklaus Knuchel, Iffwil (Kanton Bern), und der Verwalter des bernischen Arbeiterheimes Tannenhof, Christian Schneider. Der erste Vorstandspräsident des gemeinnützigen Vereins war der Pfarrer von Diegten, H. Bay. In den Vereinsstatuten vom 24. Mai 1904 lese ich, dass das Heim auf dem Hofgut „Unterdietisberg“ dienen soll:
 

  1. als Zufluchtstätte für zeitweilig arbeitslose Männer;

  2. als Stätte der Wiedergewöhnung an ein geordnetes Leben der Arbeit für solche, die von der Gefahr des Müssiggangs und des Stromertums bedroht sind;

  3. als vorübergehendes Heim für stellenlose, arbeitsfähige entlassene Strafgefangene;

  4. als Aufenthaltsort für Pensionäre, die ein Kostgeld entrichten.
     

1926 wurden die Statuten ergänzt. Es wurde festgehalten, dass die Arbeitsfreude und der Sinn für ein geordnetes, zweckerfülltes Leben der Kolonisten durch regelmässige Arbeit im landwirtschaftlichen Gutsbetrieb sowie in den angegliederten Werkstätten geweckt und gefördert werden soll und dass Enthaltsamkeit von alkoholischen Getränken verlangt wird.

Eine stramm eingeteilte Tagesordnung“

Aufschlussreich sind die Ausführungen des damaligen Vorstandspräsidenten, Pfarrer Fritz Huber, Basel, im Jahresbericht von 1929: „In den 25 Jahren seit der Gründung haben wir für unser Vorgehen bei der Arbeit an den Kolonisten mancherlei lernen können. Die Versuche Herrn Schneiders (des damaligen Verwalters), den Herzen der Kolonisten vor allem seelsorgerisch entgegenzukommen, müssen etwas Rührendes an sich gehabt haben, aber er drang mit seinen Bemühungen nicht durch und gefährdete mit seiner Methoden die Anstalt. Die Arbeit litt, der Gutsbetrieb kam in Rückstand. Ein Haus, in dem vorzüglich die Arbeit als Erziehungsmittel in Anwendung kommen soll, bedarf der Autorität bei aller gütigen und geduldigen Stellung zu den Menschen. Eine stramm eingeteilte Tagesordnung wird auch zum Bedürfnis nach Ruhe und Erholung gerecht werden und schafft bei den Leuten am meisten Befriedigung.“

1935 wurde der Name „Arbeiterheim“ in „Arbeiterkolonie“ umgeändert, um zu verhüten, „dass sich einzelne Insassen darauf berufen, sie seien in einem Erholungsheim und nicht in einer Anstalt“. Der Name sollte zum Ausdruck bringen, dass der Erziehungszweck nur durch regelmässige, alle Kräfte in Anspruch nehmende Arbeit erreicht werden könne, ohne indessen am Zweck, arbeitslosen und arbeitswilligen Männern ein Heim zu bieten, etwas zu ändern.

Zu den pädagogischen Problemen gesellten sich immer auch finanzielle Schwierigkeiten. Nur dank der grosszügigen Unterstützung durch die Kantone Basel-Land und Basel-Stadt, verschiedener gemeinnütziger Vereine, von Firmen und anderer privater Gönner war und ist es möglich, die Institution weiterzuführen.