"doppelstab" 1968

Ein Brandunglück raubte dem früheren Ballettänzer, Hochseilartisten, Zirkusclown und Wahrsager Otto Schlichter sein Zuhause im ältesten Zirkuswohnwagen der Schweiz, wo der heute als Plakatausträger arbeitende Basler sein Altersrefugium am Wiese-Ufer eingerichtet hatte.

Die Tragödie eines Clowns

Von Felix Feigenwinter


Am 22. April 1968 brannten am Wiesendamm zwei Zirkuswagen und die ehemalige Kleinhüninger Bade- und Waschanstalt nieder. Das Feuer war im ältesten Zirkuswohnwagen der Schweiz ausgebrochen, der dort seit Jahren stationiert war. Der ehemalige Ballett- und Hochseiltänzer, Zirkusclown, Wahrsager, Schausteller und heutige Plakatausträger Otto Schlichter wollte darin sein Abendessen anrichten. Dabei entzündete sich Petrol, das Unglück war nicht mehr abzuwenden. Zwei Männer, die zufällig des Weges kamen, sahen Otto Schlichter im Feuer stehen. Nur mit Mühe gelang es ihnen, den einst vielbeklatschten Bühnen-, Arena- und Budenkünstler vor dem Flammentod zu retten.

Zu Beginn der Fünfzigerjahre hatte sich Schlichter an der Peripherie Basels niedergelassen, um hier seinen Lebensabend zu verbringen. Er hatte sich ein kleines Naturparadies geschaffen, ein schrulliges Refugium: Umrankt von sorgsam gepflegten Blumen und Sträuchern stand der malerische Wohnwagen am Wiese-Ufer, an Basels Peripherie. Und nun zerstörte das Feuer sein Heim aus Holz auf vier Rädern. Da wollte er wenigstens sein Täubchen "Bibi" retten, das ihm - wie er gesteht - nach dem Tod seiner Mutter anno 1947 "das Liebste auf der Welt" bedeutete. Seine eigenen schweren Brandwunden hatten die Einweisung ins Spital als lebensnotwendig erscheinen lassen, aber der zartbesaitete, eigenwillige Artist hoffte, seinen gefiederten Freund noch lebend anzutreffen und flüchtete gleich nach der Einweisung in die Notfallstation sofort an den Ort der Katastrophe zurück - vergeblich. "Die Taube ist das Symbol der Reinheit und des Friedens", sinniert mein Gesprächspartner traurig. Das Feuer am Wiesendamm hat alle Reminiszenzen an sein bewegtes Leben vernichtet. "Heute bin ich nur noch ein Gespenst."

Über vier Monate sind seit dem Unglück vergangen - aber noch immer sind die Spuren gut sichtbar: Vom Feuer angesengtes Haar, das nicht mehr nachwachsen will, und nur mühsam heilende, rote und weisse Brandnarben an Armen und Beinen. Zudem fehlen dem schwer geprüften Mann, dem ich in meinem Redaktionsbüro gegenübersitze, die oberen Zähne. "Zuhause habe ich mein Gebiss eben stets herausgenommen", erklärt er, "und ich hatte keine Zeit mehr, es zu retten." Den materiellen Schaden kann er verkraften: Wagen und Hausrat waren versichert. Aber dass alle Souvenirs an sein bewegtes Leben ein Raub der Flammen wurde, bricht ihm das Herz. "Mein Leben verschrieb ich ganz der Bühne und der Arena. Nach der Arbeit als Plakatverträger, die ich im Alter übernommen habe, freute ich mich,abends in meinen Wohnwagen zurückzukehren, wo ich ganz in meinen Erinnerungen lebte. Doch jetzt ist alles futsch, man wies mich in eine sogenannte bürgerliche Wohnung. Erstmals in meinem Leben kann ich zwar eine eigene Badewanne benützen, aber es fehlt mir die Romantik und Naturverbundenheit, die ich in meinem Wohnwagen hatte. Einzig die Arbeit mit den Theaterplakaten freut mich noch ein wenig. Da kann ich mich wenigstens indirekt für die Bühne einsetzen, und ich finde ein wenig Ablenkung und Vergessen",


Brotlose Bühnenkunst

Otto Schlichter erzählt aus seinem Leben: "Ich bin am 10. März 1906 in Basel geboren. Mein Vater war Nachtwächter in der Firma Geigy. Ich war einziges Kind. Schon als kleiner Bub habe ich für die Bühne geschwärmt, obwohl niemand von unserer Familie eine Beziehung zum Theater hatte. Als ich mit meinen Eltern einmal in einem Restaurant war, sass dort die Ballettmeisterin Friederike Wahl. Zufällig kamen wir mit ihr ins Gespräch, und meine Eltern erwähnten, dass mich die Kindermärchen im Stadttheater derart begeistert hätten, dass ich selbst am liebsten auf die Bühne ginge... Die Ballettmeisterin lud mich ein, in den Kinderchor einzutreten. Bald darauf nahm ich Ballettunterricht. Mein erster offizieller Auftritt im Basler Stadttheater war im Weihnachtsmärchen 'Aschenbrödel'. Da ich nun einmal Bühnenluft gewittert hatte, wollte ich nicht mehr aussteigen. Ich nahm Schauspielunterricht. Mein Vater allerdings wünschte, dass ich einen 'anständigen' Beruf' ergreife. Als ich aus der Schule war, anvertraute ich dem damaligen Direktor unseres Stadtheaters meine geheimen Pläne, doch der sprach ganz im Sinne meines Vaters: Ich solle mich zuerst für einen bürgerlichen Beruf ausbilden, meinte auch er; als Ballettänzer und Schauspieler würde ich zu wenig verdienen... Aber ich liess mich nicht beirren, sondern wandte mich - als knapp Fünfzehnjähriger - ans Stadttheater Mulhouse, wo man mich fürs Ballett engagierte. Dort lernte ich die düstere Seite des Theaterlebens kennen: Ein Ballettmädchen versicherte mir, es müsste verhungern, wenn es nicht einen Freund hätte, der es finanziell unterstützte! Und als ich mich etwas später im Berliner Stadttheater vorstellte, bot man mir als Tänzer eine Gage von drei Mark für den Abend. 'Sie müssen nebenbei noch Geld verdienen', riet mir der Direktor..."


"Eine überirdische Frau"

Um sich einen Nebenverdienst zu sichern, erlernte Schlichter nun auch das Zauberhandwerk. Gleichzeitig übte er sich im Draht- und Hochseiltanz. Und das war der Beginn seines Einzugs in die Welt des Variétés, der Jahrmärkte und des Zirkus. Vorerst präsentierte er seine Kunststücke an Vereinsanlässen; "hauptberuflich" wirkte er immer noch als Ballettänzer. Sein phantastischstes diesbezügliches Erlebnis war, wie er bekennt, sein Auftritt in Paris zusammen mit der "damals grössten Tänzerin der Welt", Tamara Kharsavina. "Viele Leute weinten, wenn Tamara auftrat", schwärmt Schlichter; "auch ich weinte, denn Tamara tanzte göttlich, sie war sozusagen eine überirdische Frau".


In Paris Angebot für den Film

In Paris scheint er dann die zwei grossen Chancen seines Lebens verpasst zu haben. Sozusagen "aus lauter Bequemlichkeit" soll er, wie er erzählt, die Möglichkeit, als Schauspieler in den damals in der Blütezeit stehenden französischen Film einzusteigen, "verglunggt" haben. "Das Angebot lag vor", berichtet er, "aber ich hätte die Eisenbahn besteigen müssen, um zu den Filmleuten zu fahren - und dazu glaubte ich im Moment keine Zeit zu haben..." Kurz darauf entschied er sich für ein gutbezahltes Engagement als Seiltänzer. "In einer Schweizer Arena, wo ich früher schon einmal aufgetreten war, stürzte der Chef vom hohen Seil. Die verzweifelte Artistenfamilie schrieb mir nach Paris, ich solle doch bitte sofort in die Schweiz kommen und den Hochseiltänzer ersetzen. Was sollte ich tun: Mein vielversprechendes Pariser Engagement oder die arme Artistenfamilie, die mich als Freund betrachtete, im Stich lassen? Ich reiste also in die Schweiz und stieg aufs hohe Seil. Das war 1937. Vielleicht war das dumm von mir..."


Vom Bühnenkünstler zum Gaukler und Schausteller

Jedenfalls war Otto Schlichters Laufbahn als Ballett- und Revuetänzer nun ein für allemal beendet. Neben seinen Hochseiltänzen präsentierte er sich jetzt auch noch als Clown, und 1942 reiste er mit dem Zirkus Knie als "Hellseher": Während den Tierschauen verblüffte er das Publikum mit "telepathischen Darbietungen".

Die Hellseherei entsprach Otto Schlichters angeborenem Hang zum Mysteriösen und Hintergründigen. An der Basler Herbstmesse und an anderen Jahrmärkten trat er er jahrelang in einer eigenen Bude als die "stille Frau" auf - als eine in einem geheimnisvollen Tempel sitzende, üppig mit Schmuck behangene, als Frau verkleidete und maskierte Wahrsagerfigur, die den Besuchern ihr persönliches Schicksal deutete.

Als Schausteller führte Schlichter auf Schweizer und deutschen Jahrmärkten ausserdem das „lustige Nagelspiel“ ein. Dieses beim deutschen Publikum auf grosse Begeisterung gestossene Leistungsspiel mit Preisen fand in der Schweiz jedoch nur wenig Anklang. Noch während des Krieges schaffte sich Schlichter dann eine eigene, halboffene Zirkus-Arena an, obwohl ihm Eliane Knie davon abgeraten hatte. „Eliane hatte mich gewarnt, ich solle warten, bis der Krieg zu Ende sei, denn in der unruhigen Zeit fände ich doch keine Artisten. Ich habe nicht auf sie gehört, weil ich mir sagte, dass ich selber ja als Clown, Seiltänzer, Possentreiber und Tänzerin auftreten könnte. Erstaunlicherweise fand ich aber trotzdem Artisten – doch die waren durchwegs Pack! Ihre Nummern waren zwar gut, aber sie hatten keine Disziplin. Während den Vorstellungen sammelten sie beispielsweise auf eigene Faust Geld beim Publikum ein, und eine Artistenfamilie aus dem Elsass entpuppte sich als Hitlerbande...“


Die Arena wurde gestohlen

Obwohl Schlichter – wie er betont - „der Zirkus mehr behagte als die Arbeit als Jahrmarktsgaukler und Schausteller“, stellte er nach Kriegsende seine Arena sorgfältig verpackt ins Güterareal des Badischen Bahnhofs zur Lagerung („Ich wollte später wieder mit der Arena auftreten, aber vorerst wollte ich Geld verdienen...“) Doch nachdem die „stille Frau“ zurückgetreten war, rentierte die Schaustellerei mit dem „lustigen Nagelspiel“ kaum mehr. Und als Schlichter daher wieder auf seine „Arena“ zurückgreifen wollte, war diese – gestohlen! „Leider hatte ich sie nicht gegen Diebstahl versichert. Ein Bahnbeamter hatte mir versichert: 'Auf diesem Areal wird nichts gestohlen'...“ Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft blieben ergebnislos.

Altersbeschäftigung als Plakatausträger

Schlichter sah sich mit einem ernsthaften Existenzproblem konfrontiert. Als enttäuschter Idealist und alternder Realist sah Schlichter keinen Sinn, eine neue Arena zu kaufen. „Und als Tänzer wollte ich nicht mehr auftreten, ein alter Tänzer wirkt lächerlich – höchstens als Clown hätte ich noch eine Chance gehabt." Dank eines glücklichen Zufalls vernahm er zu Beginn der Fünfzigerjahre, dass in Basel eine anständig bezahlte Stelle als Plakatausträger frei sei. Er fasste die Gelegenheit beim Schopf, sich auf einen geruhsamen Lebensabend vorzubereiten, übernahm den besagten Posten und liess sich mit seinem Wohnwagen vorerst im Gundeldinger Quartier nieder. Etwas später fand er dann eben am Wiese-Ufer eine neue – wie er hoffte seine letzte – Heimstätte. In dieser „Weltabgeschiedenheit“ wollte er in den Erinnerungen schwelgen – abseits vom Publikum, das er jahrzehntelang als Künstler und Schausteller unterhalten und verzaubert hatte. „Ich war sozusagen eingeschlossen von der Natur“, sagt er, „es war wundervoll!“

Als der Zirkus Knie in Basel gastierte, besuchte er eine alte Bekannte aus der Artistenfamilie und erzählte ihr von seinem romantischen Wohnwagen. „Meine Kollegin – eine Artistin von Weltruf – versprach, mich zu besuchen. Ich wartete vergeblich auf sie. Später erfuhr ich, dass sie mit ihrem Velo zwar zum Wiesendamm hinausgefahren war, aber meinen Wohnwagen nicht gefunden hatte. Er war versteckt hinter den Pflanzen und Blumen!“

Seinen mitsamt den Rädern aus Holz gefertigten historischen Wohnwagen wollte Otto Schlichter als vermutlich ältestes (bis vor kurzem) noch benütztes Exemplar dieser Art mindestens in Europa einst dem Schweizer Verkehrshaus vermachen, aber weil das Feuer das kostbare Museumsstück nun in Schutt und Asche verwandelte, hat sich eine testamentarische Verfügung erübrigt.