Die Schreckensvision einer entvölkerten Schweiz

Von Felix Feigenwinter

Ein beliebtes Argument für eine Politik gegen einströmende Ausländer war jahrelang der Einwand, die Schweiz werde oder sei bereits übervölkert. Stadtbewohner, die sich täglich durch verstopfte Strassen, Einkaufsläden und Trams zwängen, mögen diese Befürchtungen teilen. Indessen zeichnen sich längst entgegengesetzte Perspektiven ab. Experten haben ausgerechnet, in den neunziger Jahren  und später würde das Schweizervolk überaltern. Dazu gesamthaft abnehmen, ja langfristig gesehen sogar aussterben. Und zwar wegen des berühmten Pillenknicks, der in den siebziger Jahren den Geburtensegen einzudämmen begann. Die AHV drohe ihrem Ruin entgegenzusteuern, und Militärsachverständige rechnen mit einem massiven Schwund des Armeebestandes. So verscheucht die  Schreckensvision einer entvölkerten  Schweiz das jahrelang gefütterte Gespenst der übervölkerten  Schweiz. Brave Eidgenossen befällt Schwindel ob solcher Umkehr vertraut gewordener Missstände.

Was tun?

Das Rezept scheint einfach: Endlich kann die Völkerwanderung aus südlichen und fernöstlichen Entwicklungsländern ins wohlstandsgesegnete Herz Mitteleuropas einen nützlichen Zweck erfüllen! Die Einbürgerung geburtenfreudiger Einwanderer würde nämlich die Herabsetzung der Rentenalter bei weiterhin finanzkräftiger AHV ermöglichen, und die Schweiz könnte auch im nächsten Jahrtausend bestehen... 

Wie bitte? Wohin es führe, wenn Söhne und Töchter asiatischer, südamerikanischer und afrikanischer Einwanderer die Schweiz von morgen regierten? Ein schlitzäugiger, gelbhäutiger Nationalbankpräsident, ein Generalstabsoffizier mit indianischen Gesichtszügen oder eine schwarzhäutige kraushaarige Landesmutter würden schlecht zum vaterländischen Denkmal passen, mit dem uns Nationalrat Markus Ruf den Bundesplatz verschönern will? Ich meine, derartige Bedenken erübrigen sich. Denn spätestens im Jahr 2020 dürfte das Schweizervolk rassisch und kulturell noch weitaus pluralistischer schillern als schon gegenwärtig. So wäre rassistische Intoleranz, die heute manchmal noch durchschimmert, dannzumal wohl endgültig überwunden. Die auf dem Bundesplatz geplanten (bleichgesichtigen) Denkmalfiguren eines Wilhelm Tell oder eines Schweizer Wehrmanns aus dem 20. Jahrhundert dürften die kunterbunt durchmischten Schweizer im nächsten Jahrtausend kaum mehr verunsichern. Selbst wenn eine dieser von einem NA-Künstler entworfenen Figuren Markus Rufs Gesichtszüge tragen sollte.

(Erschienen 1986 im "Nebelspalter")