Besuch in einer Klinik

Von Felix Feigenwinter

 

An jenem Morgen hätte Mirjam von der Klinik aus zur Arbeit gehen sollen; eine Sozialarbeiterin hatte ihr eine Halbtagsbeschäftigung im Büro eines Museums vermittelt, aber ein erneuter Ohnmachtsanfall mit schweren Herz-Kreislaufstörungen hatte sie ans Bett gefesselt. Als Mirjams Mutter das Zimmer betrat, in dem sich die Tochter seit mehreren Monaten betreuen ließ, traf sie diese schlafend. Sie zog das mitgebrachte Geschenk aus einer Plastiktüte und hängte den kornblumenblauen Rock über die Lehne eines der beiden Stühle im Zimmer. Etwas später erwachte die Patientin und verwechselte den Besuch vorerst mit einer Arztvisite; allmählich dämmerten ihr die Zusammenhänge.

"Möchtest du wieder nach Hause?" fragte die Mutter wie beiläufig.

Ihr Zuhause sei woanders, antwortete die Tochter mit unerwartet klarer Stimme, und ihr verschleierter Blick schien durch das Fenster über eine alte Eibe zu schweifen, die am Rande des großen Gartens im Schatten eines Kastanienbaums stand.

Ob sie das blaue Kleid gesehen habe, erkundigte sich daraufhin die Mutter, und sie nannte den Ort, wo sie das Geschenk gekauft habe, und die Tochter lächelte matt.

"Du warst im Büro so tüchtig", flüsterte die Mutter, "aber du bist empfindlich!"

Hierauf ließ sie sich zeitungslesend in einer Ecke des Zimmers am Fensterplatz nieder. Nun betrat ein jüngerer Mann das Krankenzimmer, wo unerwartet still die Besucherin im Sonnenlicht am Fenster saß. Sie berührte die entgegengestreckte Hand nur kurz.

"Freut mich", sagte sie, doch ließ sie es nicht dabei bewenden, sondern fragte, als sich der Schnurrbärtige zum Bett zurückziehen wollte:

"Wer sind Sie?"

"Er ist der Arzt", betonte Mirjam, "Herr Doktor Opferkuch."

Der Mann mit dem Zwirbelschnauz bekräftigte: "Ich bin der Arzt."

Die Tochter erwähnte, dass er eben nicht wie andere im weißen Kittel auftrete, und die Mutter schloss daraus, dieser Umstand erfülle ihn mit Stolz.

"Es mag fortschrittlich sein", räumte sie ein, "für die Besucher ist es verwirrend."

Der Schnurrbärtige verhielt sich so, als habe er es überhört. Er fragte die sich seitwärts aufrecht stützende Tochter, ob die Tabletten schon wirkten, wobei er, so dünkte es die Mutter, auf eine Antwort ebenso Wert zu legen schien, wie er auf sie zu verzichten wünschte. Er sei übers Wochenende abwesend, stellte er in Aussicht, statt seiner würde dann eine Frau Rebhuhn (oder ähnlich) auftreten.

Nachdem der Mann das Zimmer verlassen hatte - nicht ohne Mirjam eingeschärft zu haben, Besuche jederzeit abzulehnen, falls sie sie nicht wünsche (was die Tochter zur lebhaften, jedoch kraftlosen Beteuerung veranlasste, die dort sitze, sei ihre Mutter), trat diese ans Bett der Kranken und erwähnte, ihr Hausmitbewohner sei letzte Woche gestorben. "Er war ein enttäuschter Idealist, betonte sie, ich glaube, er ist an Enttäuschung gestorben."

"Was ist mit seiner Frau?" versuchte Mirjam nun  zu erkunden.

"Sie spricht seit einiger Zeit nicht mehr", antwortete die Mutter, "man hat sie ins Pflegeheim gebracht."

Hierauf fiel die Tochter ins Kissen zurück und starrte zur Decke. Dabei veränderte sich ihr Gesicht in einer Weise, wie die Mutter es noch nie erlebt hatte.

Die Mutter verließ das Zimmer, schritt durch einen schmalen Gang in den Klinikgarten und näherte sich schreienden Vögeln und geheimnisvoll lächelnden Patienten. Wenig später bestieg sie einen Bus, der sie an eine andere Peripherie der Stadt bringen sollte.

Mit aufgerissenen Augen suchte Mirjam die Wand ab. Sie fand das Plakat, das ihr vor einiger Zeit ein Herr Mors geschenkt hatte. Mit ausgeschnittenen, aufgeklebten Buchstaben hatte Mors die Wörter "wirklICHkeit nICHts" aneinandergereiht, eine magische Folge, die sich wie zufällig ergeben hatte, die aber - daran glaubte auch sie - wahrer schien als die Antworten, die sie während der Therapiegespräche auf die Fragen der Therapeuten zu äußern versuchte.

Mirjam kuschelte sich zur Seite und spürte, wie die Dämmerung sie zu umhüllen begann. Sie wiegte sich in den Wunsch, aus der wirlICHkeit zu erwachen, ins nICHts zu entschweben, in einen nicht gebärenden Mutterschoss, der die Auflösung beschleunigt und sanft verbirgt. Bevor sie das Bewusstsein ganz verlor, erspähte sie die dunkle Gestalt einer Katze, die täglich übers Fenstersims vor ihrem Zimmer strich. Gebannt nahm sie wahr, dass das Tier eine Amsel in der Schnauze trug. Mit letzter Konzentration versuchte sich Mirjam das allmähliche Verstummen der Vogellieder aus dem Klinkgarten vorzustellen. Indessen begannen andere Geräusche die einsetzende Stille auszufüllen: hemmungsloses Fauchen und die unverschämt deutlichen Stimmen klagender Säugetiere, schauerlich wie das nächtliche Heulen aus den Familienblöcken am Rande der Stadt.     

geschrieben 1993