Ende einer Laufbahn 

Von Felix Feigenwinter

Auf der alljährlich wiederkehrenden Herbstmesse, die zum Basler Herbst gehört wie die fallenden Blätter in den Parkanlagen und der kühle Rheinnebel, steigen in mir Erinnerungen auf an jene Zeiten, als ich in der Vorstellung, später irgendwann Schriftsteller-Lorbeeren einheimsen zu können, in beinahe unaufhaltsamer schöpferischer Produktionswut an einem Roman schrieb. Und daran, wie ich von dieser Illusion gnädig geheilt wurde - in einer Herbstnacht Mitte der Sechzigerjahre.

Am frühen Nachmittag zuvor hatte ich auf der Herbstmesse einen um mehrere Jahre reiferen Literaturfreund getroffen, dem ich mein großes Glück anvertraute: Nämlich, dass ich den Roman, an dem ich seit etlichen Jahren Tag und Nacht arbeitete, endlich beendigt hätte; er läge druckreif auf meiner Bude, bereit, an einen Verlag verschickt zu werden. Der Literaturfreund zeigte sich sehr  interessiert,  er wollte das Produkt meines bisher verkannten Fleißes kritisch begutachten,  und wir vereinbarten, uns in der damals noch vorhandenen Weinstube Hunziker am Spalenberg zu treffen. Da erschien ich ein wenig später mit den dreihundert Schreibmaschinenseiten Roman unterm Arm - mein Bekannter saß bereits vor einem Liter Roten, und wir begannen zu lesen: Seite für Seite, zuerst er, dann ich, manchmal auch zu zweit dieselbe Seite. Dazu tranken wir Wein, erstaunliche Mengen Magdalener.

Der Abend brach herein. Und mit ihm ein angeheiterter Kunstmaler, der Heimweh-Ungar Janossy, der sich zu uns setzte, mittrank und,  in seiner bekannten Art,  die im Lokal befindlichen Gäste zu zeichnen begann; die Skizzen verteilte er den Porträtierten. So ging das stundenlang, bis wir um Mitternacht unserem Malerfreund "Lebtwohl!" zuriefen und in die kalte Herbstnacht tauchten.

Erst auf dem Petersplatz, zwischen den vermummten Messebuden, beschlich mich das helle Entsetzen: wo war mein Roman?! Zu zweit untersuchten wir den Weg zurück bis zum Spalenberg,  in der verschwommenen Vorstellung, das Dreihundertseitenwerk sei unterwegs auf die Strasse gefallen. Nun wimmelte es zwar von Papieren auf dem nächtlichen Boden: von weggeworfenen Kastanien- und Magenbrot-Tüten, Zigarettenpäcklein und Papiertaschentüchern, Trambillets und leeren Zündholzbriefchen. Der Roman war nicht darunter.

Am Morgen stand ich, ein banger Hoffender, vor der Tür der Weinstube -  der erste Gast! Erfolglos...

Mir dämmerte: Die Porträts! Unser Malerfreund, der gutmütige Janossy aus Budapest, der so leicht in Tränen ausbrach, hatte die Porträts, die er in seinem Bescherungsrausch fortlaufend an die weinseligen Gäste verteilte, auf die Rückseiten meiner dreihundert Schreibmaschinenblätter gezeichnet! Weder Täter noch Opfer waren Zeuge dieser Orgie gewesen, ganz zu schweigen von den übrigen Betrunkenen.