"doppelstab" 9. Mai 1977


Geliebte und gequälte Tiere

Von Felix Feigenwinter

Als Schulkind hatte ich den Gemüsegarten meines Vaters vorerst heimlich und später unter zähneknirschender Duldung des Familienoberhauptes mit weidenden und sich üppig vermehrenden Meerschweinchen unterwandert. Später flatterte ein halbes Dutzend Wellensittiche durch meine Wohnung. Und heute vergeht kein Monat, als dass mein Söhnchen nicht seine und meine Schritte in Richtung Zoologischer Garten lenkt, allwo es die eleganten Schwimmkünste der Seelöwen, die Luftakrobatik im Affenhaus und das imposante Gähnen des Löwen zu besichtigen gilt. Insofern mag ich also ein ziemlich durchschnittlicher, doch keineswegs unerfahrener Tierfreund sein: Keiner, dem es vor rührseliger Ich-Bezogenheit nicht gelingt, die Bedürfnisse der Tiere von jenen der Menschen zu unterscheiden, indem er beispielsweise seinen viebeinigen Hausgenossenn zu einer Mischung zwischen Säugling und Liebhaber umfunktioniert; aber umgekehrt auch keiner, der das Leben der Tiere nur durch die nüchterne, ganz und gar unsentimentale Brille des Wissenschaftlers sieht. (Womit hier nicht gesagt sei, dass Wissenschaftler - vor allem Zoologen - mitunter nicht auch Romantiker sein können.)
 

Nein, ich freue mich mit der Unbefangenheit des Laien, ein Tier beobachten und wenn möglich auch streicheln und füttern zu können. Aber als Naturfreund weiss ich auch, wie schandbar die menschliche Zivilisation der Tierwelt zum Teil zugesetzt hat. So macht es mir heute manchmal Mühe, beispielsweise einen Hühneroberschenkel, ein Frühstücksei oder ein Kalbsrahmschnitzel ungetrübt zu vertilgen. Das Umsichgreifen einer nach rationalistischen, rein kommerziellen und nicht auch nach tierverhaltensgerechten Gesichtspunkten betriebenen Hühner- und Viehhaltung beeinträchtigt meine Unbefangenheit als Feinschmecker. Das Wissen um die nacktmaterialistische Ausbeutung der Tierwelt verschlägt mir zuweilen den Appetit. Dass auch solche Gourmet-Empfindungen einer strengen moralischen Durchleuchtung kaum standhalten, ist mir - das sei hier nebenbei vermerkt - ebenfalls bewusst. Die fleischfressende Menschheit wird es eben stets schwer haben, ihre Essgewohnheiten und -begierden mit dem vernünftigen Bestreben, menschliches Handeln auch ethischen Grundsätzen zu unterstellen, zu vereinbaren. Aber auch da gibt es, meine ich, den Unterschied zwischen einem Kompromiss nach dem Grundsatz "Leben und leben lassen" und der rücksichtslosen Ausbeutung kreatürlichen Daseins um den hässlichen Preis gequälten und verstümmelten Tierlebens.

Dass dies nicht nur die Würde der in einen technokratischen Produktionsprozess eingespannten Tiere, sondern auch jene des homo sapiens (rein biologisch betrachtet bekanntlich ein Säugetier) zerstört, scheinen manche Beteiligte noch nicht begriffen zu haben.
 

Zum Glück gibt es aber nicht nur tierquälende, sondern auch tierliebende Menschen. Dass dies jener Hundehalter nicht ist, der - wenn auch nicht aus sadistischer Bosheit, sondern aus Bequemlichkeit oder Gedankenlosigkeit - seinen vierbeinigen "Freund" stundenlang im parkierten Auto in der Sonne darben lässt, während das "Herrchen" irgend einer geschäftlichen Besprechung nachgeht, braucht hier nicht speziell erörtert zu werden. Haben Sie aber zum Beispiel auch gewusst, dass sich gewisse Tiere im Zoologischen Garten nach einem Wochenende mit grossem Besucherandrang erschöpft und verstört zeigen und von ihren Wärtern beruhigt werden müssen?
 

Mit diesen kritischen Bemerkungen möchte ich weder Ihnen, geschätzte "doppelstab"-Leserinnen und -Leser, noch mir selber die Freude am Haustier oder am nächsten Zolli-Besuch verderben, sondern im Gegenteil daran erinnern, dass echte Tierfreundschaft auch ein grosses Mass an Verständnis für die Eigenart dieser Lebewesen voraussetzt - und vernünftiges Verhalten (zum Beispiel beim Füttern und "Necken" von Tieren). Unter solcher Voraussetzung menschlicher Verantwortung kann Tierliebe nicht nur für uns, sondern auch für die Tiere zur Freude werden.