Das Rufen der Mutter

Von Felix Feigenwinter

 

An einem strahlenden Frühlingstag im April, nachdem der Wirt "Hinausstuhlen!" befohlen hatte, trug Ueli Moser Getränke ins Freie, die   unter  knospenden Kastanienbäumen sitzende Gäste bestellt hatten. Weil er ein verhinderter Buchhändler und kein ausgebildeter Kellner war, konzentrierte er sich auf die für ihn ungewohnte Arbeit mit angestrengter Aufmerksamkeit, um die ihm anvertrauten Aufgaben möglichst tadellos zu verrichten. Doch während er das grosse Servierbrett mit vielen gefüllten Tassen und Gläsern sorgfältig aus dem Gasthaus in den Garten balancierte, vernahm er unerwartet die Stimme seiner Mutter. Diese spazierte zufällig am Gartenrestaurant vorbei und entdeckte den Sohn, der soeben das beladene Tablett heraustrug. Sie rief  seinen Namen: "Ueli!", und das Tablett schmetterte auf den Kiesboden. Die  ausgeschütteten Flüssigkeiten, Scherben zerbrochener Gläser und Tassen, über den Kiesboden verstreute Kaffeelöffel, aber auch die teils erschrockenen, teils empörten, teils hämischen Blicke von Gästen, sogar das gutmütige Lachen des Gastes, über dessen Hose ausgeschüttetes Bier geflossen war, und die  wohlmeinende, beschwichtigende Bemerkung dieses Herrn:  "Scherben bringen Glück!"  verwirrten Ueli so sehr, dass er  ausserstande war, das Rufen seiner Mutter, die er schon seit vielen Monaten nicht mehr gesehen hatte, angemessen  zu erwidern.

Da der Wirt seinem Hilfskellner vorwarf: "Sie machen mir meine Gäste kaputt!", war Uelis junge Kellnerlaufbahn bereits beendet. Aber der Gast, dessen Hose mit Bier überschüttet und dessen  Frühlingspullover mit Kaffeespritzern befleckt worden war,  ein Herr Bader,   zeigte Mitleid  und war hilfsbereit;  er  bot Ueli eine neue Stelle in seinem Laden an. Herr Bader war Buchhändler wie Uelis früherer Chef, Ivo Schluchzer, der in einer Vollmondnacht schwer verschuldet  in den die Stadt durchquerenden Fluss gestürzt  und ertrunken war. Dieser Tod hatte Ueli gezwungen, seine Buchhändlerlehre abzubrechen und vorübergehend als Aushilfskellner zu arbeiten.

Doch nun konnte Ueli Moser fortan   wieder in einer Buchhandlung Kunden bedienen und Geld verdienen!

In Herrn Baders Geschäft verbrachte Ueli ruhige Zeiten. Der Chef liess ihn stunden-, manchmal tagelang allein zwischen den dicht neben- und übereinander versammelten Büchern. Den engen, schmalen Altstadtladen betraten meist ruhige Menschen, die Uelis Beratungsbereitschaft nur sparsam beanspruchten, in sich versunken den hohen Regalen entlangschnüffelten oder  wortkarg vor dem Tisch verharrten, auf dem sich die Neuerscheinungen türmten. Viele dieser Bücherwürmer, meist vertraute Stammkunden, schienen kein Interesse an einem Gespräch mit dem Hilfsbuchhändler zu bekunden; sie begnügten sich mit einigen banalen Bemerkungen an der Kasse, wo Ueli den Verkaufspreis der  ausgewählten Ware registrierte, das Geld entgegennahm und die Bücher  auf Wunsch manchmal in ein Geschenkpapier wickelte  und in einer Plastiktüte versorgte. Obwohl Ueli seine Buchhändlerlehre nie beendet hatte,  hielt er sich selber für einen gut informierten   Literaturfreund, der sein Wissen gerne an Rat suchende Kunden weitergegeben hätte.   

Sorge bereitete ihm der  spärliche Kundenzustrom. Er fragte sich, ob der  schleppende Bücherverkauf Herrn Bader nicht doch eines Tages dazu veranlassen müsste, seinen kleinen altmodischen  Laden aufzugeben und seinen einzigen Angestellten zu entlassen. (In der liquidierten Buchhandlung des im Strom ertrunkenen einstigen Lehrmeisters  Schluchzer, wo freilich mehrere Angestellte beschäftigt waren, hatte  ein weitaus lebhafterer Betrieb geherrscht, und trotzdem ging das Geschäft bankrott.) Aber Herr Bader versuchte Uelis diskret vorgebrachte  Bedenken mit einem flotten Spruch zu zerstreuen; er sei ein leidenschaftlicher Buchhändler, verstehe aber trotzdem etwas von Buchführung, sagte Herr Bader, der  alles Administrative stets selber oder durch seine Frau  erledigt haben wollte; in die Gewinn- und Verlustrechnungen und die Jahresbilanzen gewährte er Ueli keinen Einblick.

So verweilte Ueli  in Herrn Baders Laden, ohne dass er  seine Mutter wieder gesehen hätte,  die seit dem frühen Tod seines depressiven Vaters  mit einem fremden Mann zusammen lebte.

An einem trüben Nachmittag war Ueli damit beschäftigt, einer jungen Kundin, die er zum erstenmal bediente, mittels Computersuche einen Buchtitel ausfindig zu machen, als  die Witwe Monika Moser, Uelis Mutter, die Buchhandlung betrat. Der Sohn erschrak; er drückte auf  eine falsche Taste, so dass das Computerprogramm abstürzte. Auch die Mutter erstaunte die Anwesenheit ihres Sohnes in diesem Laden, sie rief überrascht: "Ueli!"

"Einen Moment, bitte, ich bin gerade beschäftigt", antwortete der Sohn mit einer Verzweiflung in der Stimme,  die die junge Frau aufhorchen liess,  und er fuchtelte mit der linken Hand in die Richtung, wo seine fassungslose Mutter stand, als ob er ein Gespenst vertreiben wolle.

Nachdem er den eher ausgefallenen Wunsch der Kundin endlich befriedigt hatte (sie suchte die vor vielen Jahren im Luchterhand-Verlag erschienenen "Windgeschichten" von Adelheid Duvanel, ein Buch, das nur noch  antiquarisch erhältlich war, und Ueli konnte die Rarität im Internet ausfindig machen und für die junge Frau  bestellen), wandte er sich an seine  wartende Mutter.

Ihre Küsse erwiderte er mit einem verstörten Lächeln, und geduckt lauschte er ihren Worten:

"Du hast dich lange nicht mehr gemeldet, lieber Sohn, ich habe  versucht, dich zu finden, aber du bist umgezogen. Meine Briefe kamen zurück, weil die Adresse nicht stimmte. Das Letztemal sah ich dich im Wirtshausgarten, wo du  Kellner warst! Ich wusste nicht, dass du wieder als Buchhändler arbeitest... das passt besser zu dir! Besuche uns doch bitte einmal!"

Ueli lächelte gequält, spähte immer wieder zur Ladentür, um zu sehen, ob vielleicht  neue Kundschaft das Lokal beträte, was freilich nicht der Fall war.

"Du weisst, dass ich meinen sogenannten Stiefvater nicht leiden kann", versuchte er nun zu erklären, "und er mag mich nicht. Es hat  keinen Sinn, dass ich euch besuche. Das gibt  unerträglichen Streit,  das solltest du doch nun wirklich wissen!"

"Dann könnten wir uns beide einmal draussen in einem Café treffen? Nur wir zwei!", bettelte die Mutter.

"Ja, vielleicht", wich Ueli vage aus, "aber  nicht in diesem Laden! Hier muss ich mich auf meine Arbeit konzentrieren... sonst gehe ich kaputt!"

"Keine Angst!", beschwichtigte die Mutter;  ihre  Augen wurden wässerig.  "Ich wusste  nicht, dass ich dich hier finde! Ich wollte ein Büchlein  für meine Nachbarin kaufen. Ich besuche sie morgen im Krankenhaus, sie musste sich operieren lassen."

Ueli beriet und bediente seine Mutter, wickelte das Büchlein, Texte der Solothurner Dichterin  Olga Brand, in Geschenkpapier, versorgte die Gabe in eine Plastiktasche und geleitete die Mutter  zum Ausgang, wo er sich küssen liess.

"Ich werde mich schriftlich bei dir melden, ich versprech's!", rief er ihr nach, in die   Altstadtgasse hinaus, in der sich die Mutter zögernd entfernte. Dann zog er sich in den menschenleeren Laden zurück, wo er  auf einen Stuhl sank und sein Gesicht  in beide  Hände vergrub. Er entsann sich des Rufens der Mutter aus einem Fenster des Hauses, wo er einst vor dem Tod seines Vaters zusammen mit den Eltern gewohnt hatte. Als kleines Kind verbarg er sich oft im Garten hinter dem Haus in einem Strauch; die vertraute Stimme, die "Ueli!" rief, drang in sein Versteck, aber die Mutter konnte ihn nicht sehen; er fühlte sich geborgen.

Doch nun betrat ein Mann den Laden, Herr Hatt, ein Stammkunde, der  Sachbücher kaufte, die Ueli nicht interessierten. Während Ueli Herrn Hatt bediente, überfiel ihn ein Weinen, was Herrn Hatt missfiel.

Ueli unterliess es, sich zu entschuldigen.

                                                          *

Am Himmel gleissten Lichtflecken, doch ungestüme finstere Wolken verdüsterten die Stadt; durch die Strasse hastete ein kühler Wind. Es war nun Sommer,  Ende Juni, aber Ueli wurde von einer herbstlichen Stimmung erfasst, als er das Tram verliess. Dämmer umfing die Häuser, obwohl der Abend noch jung war. Aus der  benachbarten Parkanlage wirbelten vereinzelte Baumblätter zur Tramhaltestelle. Ueli wunderte sich über die sonderbare Veränderung  -  als er das Tram in der Innenstadt bestiegen hatte, wähnte er sich, sonnenbeschienen, noch in sommerlicher Stimmung. Nun stolperte er, als er dem Fussgängerstreifen zustrebte, über den Randstein, vielleicht  über ein anderes hartes Hindernis, das er übersehen hatte, wie ihm schien. Jedenfalls stürzte er, Kopf voran, auf den Asphalt.

Da er in der linken Hand ein Büchlein umklammerte, das er sich in Herrn Baders Laden eingepackt hatte, um es seiner Mutter zu schenken, die er morgen Sonntagabend in einem nahen Restaurant zu treffen beabsichtigte (Luisa Famos, Poesias Gedichte, erschienen 1995 im Arche Verlag, Zürich), war es ihm nicht gelungen, den Aufprall seines Gesichts auf dem Boden abzufangen. Als er aus einer kurzen Ohnmacht erwachte, umringten ihn drei hilfsbereite Frauen. Die eine reichte ihm die Brille, die er beim Sturz verloren hatte und die nun zerbrochen war. Eine andere steckte ihm, nachdem sie ihm beim Aufstehen geholfen hatte, eine Packung Papiertaschentücher zu, da seine zerschlagene Nase heftig blutete, aber die Aufforderung der dritten Passantin, sich in der Notfallstation des Kantonsspitals verarzten zu lassen, schlug er aus, da er unter keinen Umständen das Rendez-vous von morgen Abend verpassen wollte und nun befürchtete, er könnte im Spital Tage lang festgehalten werden. Erst während er wegflüchtete, hörte er eine beschwörende Stimme rufen: Man sollte den Kerl anzeigen, der Sie zusammengeschlagen hat!

Auch tags darauf war ihm  elend zumute, und er beschloss, das Treffen am Abend zu verschieben. Er telefonierte seiner Mutter und erzählte ihr auf das Tonband von seinem Missgeschick. "Mein Gesicht ist bös entstellt", teilte er ihr mit, "und ich kann es nicht einfach abstreifen wie eine Fasnachtslarve. Meine Nase ist unanständig angeschwollen und mit einer schwarzroten Blutkruste umhüllt, mein Gesicht erinnert an eine Mischung zwischen Frankensteins Sohn und Graf Dracula. Wegen starken Blutergüssen sind meine Wangen aufgedunsen und schimmern violett-grünlich-schwefelgelb, meine Augenlider sind zugeschwollen und blutrot -  ich bin einer Geisterbahn entsprungen! Würde ich heute Abend dergestalt im Restaurant auftauchen, würde ich die gesamte Gästeschar vor den Kopf stossen und  das Servierpersonal erschrecken. Zudem quält mich ein stechender Schmerz im linken Arm, unter meiner Schädeldecke brennt es verdächtig, ich vermute, eine Hirnerschütterung!" Den unbekannten Rohling und dessen Faustschlag, den er verdrängt hatte, noch während ihn dieser traf,  aber auch die Stimme, die ihn daran erinnerte, erwähnte Ueli nicht, als er zur abwesenden Mutter sprach.

Nun legte er sich ins Bett und versuchte, zu schlafen; das Läuten des Telefons ignorierte er.

Am nächsten Morgen, es ist Montag, ist Uelis Gesicht immer noch geschwollen und  vielfarbig; die Schmerzen im Arm und Kopf haben sich kaum verflüchtigt. Seine Umwelt kann er ohne Brille nur noch verschwommen wahrnehmen. Trotzdem drängt es ihn zur Arbeit, denn Herr Bader, der Ladenbesitzer, ist mitsamt seiner  Frau ins Ausland verreist; heute ist Ueli  für das Oeffnen und Betreiben der Buchhandlung  allein verantwortlich. Die blutverkrustete Nase versucht er unter einem grossen Pflaster zu verbergen. So erblickt ihn Frau Moser am späten Vormittag im Laden zwischen den Bücherregalen; sie beginnt sofort zu weinen, und Ueli legt die Hand seines schmerzfreien rechten Arms tröstend auf die Schulter der Mutter.

Für die Pflege privater Sentimentalitäten bleibt indes nur wenig Zeit: Zwei ernsthafte Kunden betreten den Laden, verlangen Ueli als Buchhändler. 

Am darauffolgenden Tag, abends, besucht Frau Moser ihren Sohn in dessen Wohnung. Ueli lässt sich von der Mutter verkrustetes Blut von der Nase ziehen. Und wieder verschweigt er, dass er auf der Traminsel nicht ungeschickt gestolpert war, wie er ihr erzählt hatte, sondern von einem Wildfremden  geschlagen und zu Fall gebracht wurde, was er sich zuerst selber nicht hatte eingestehen wollen - eine vulgäre Hässlichkeit, die er von seiner Mutter unter allen Umständen fernzuhalten gedenkt.

Zusammen betreten sie nun den kleinen Balkon der Zweizimmer-Mietwohnung und betrachten den Abendhimmel.

"Dieses Licht, diese Wolken!", staunt die Mutter.

Eine Wolke schiebt sich zwischen die Industrieschlote am westlichen Rand der Stadt, verdeckt den Glanz der untergehenden Sonne. Der Schatten der Wolke verfinstert den Balkon; Ueli und seine Mutter stehen unversehens im Dunkeln.

Noch in der selben Woche, Freitag abends, begleitet Uelis Mutter ihren Lebenspartner, den Wachmann Hugo L., zu einer Veranstaltung im Fussballstadion. Auf dem Weg dorthin gehen sie am Restaurant vorbei, wo Ueli im Frühjahr seine Stelle als Kellner verloren hatte, weil er das Rufen der Mutter vernahm. In Erinnerung daran späht Frau Moser beim Vorbeigehen in den Wirtshausgarten. Und wieder entdeckt sie den Sohn. Er tummelt sich unter Leuten in bleichen Nachthemden und schwarzen und roten Tüchern, deren fahl geschminkte Gesichter mit dunklen Augenringen und phantastischen Perücken den Garten gespenstisch verwandeln; die verkleideten Quartierbewohner trinken unter den mit Lampions und Girlanden behangenen Bäumen an langen Tischen Wein und Bier, oder sie bewegen sich zum  leidenschaftlichen Spiel eines Tangoorchesters bizarr. Ueli tanzt mit einer schwarzen Frau, deren Vampirzähne im Abenddämmer schimmern.

Frau Moser betrachtet die ungewöhnlichen Vorgänge mit zunehmender Heiterkeit; ihr Wachmann ist mürrisch gestimmt. "Verrücktes Pack!", schimpft er, "ein neuer Wirt, ein Durchgeknallter - der alte hätte so etwas nie zugelassen!" Gehässig drängt er Frau Moser, den Gang zum Fussballplatz  fortzusetzen.