Zwischen 1971 und 1973 war Felix Feigenwinter Alleinredaktor der aargauischen „Freiämter Zeitung“. Als solcher interviewte er den damals fürs Schulwesen verantwortlichen sozialdemokratischen Aargauer Regierungsrat Dr. Arthur Schmid zum umstrittenen Thema „Gesamtschule“.

Dieses Exklusiv-Interview erschien am 21. März 1972 in der „Freiämter Zeitung“:

Manche Befürworter der Gesamtschule sind keine Marxisten

Von Felix Feigenwinter

Allenthalben spricht man von der „Gesamtschule“. Der Begriff ist zum Schlagwort geworden. Mit ihm werden Illusionen geweckt, aber auch negative Vorurteile, und über seine Bedeutung scheinen sich manchmal sogar Fachleute nicht immer ganz im klaren zu sein. Nachdem in den letzten Wochen auch im Freiamt und speziell in Wohlen über die „Gesamtschule“ referiert, diskutiert und geschimpft worden ist, finde ich es an der Zeit, nun auch einmal jenen Mann zu Wort kommen zu lassen, der im Kanton Aargau fürs oberste Schulwesen an oberster Stelle verantwortlich ist. Mein Gespräch mit Regierungsrat Dr. Arthur Schmid beinhaltet vor allem drei Fragen: Erstens, was hat man unter dem leider ideologisch belasteten Begriff „Gesamtschule“ wirklich zu verstehen; zweitens, trifft es zu, dass beabsichtigt ist, die „Gesamtschule“ auch im Kanton Aargau einzuführen (und wenn ja, in welcher Form); und drittens, entspricht das in letzter Zeit oft gehörte Gerücht der Wahrheit, wonach man mit undemokratischen Mitteln versuche – zum Beispiel durch Steuerung der Ausschreibungen für Schulhausbauten - , Voraussetzungen für eine Gesamtschule zu schaffen, so dass dem Stimmvolk später praktisch gar keine andere Wahl mehr bleibe, als einer entsprechenden Vorlage zuzustimmen? Das Interview möge dazu beitragen, die Diskussion über die „Gesamtschule“ zu versachlichen und das Problem nicht als ideologische oder parteipolitische, sondern als allgemeine aktuelle Ausbildungs- und Erziehungs-Frage zu verstehen und als solche möglichst objektiv und in erster Linie in Rücksicht auf die zu schulenden Kinder zu behandeln. Eines weiteren Kommentars will ich mich vorerst enthalten, da ich der hoffentlich erspriesslichen Diskussion nicht vorgreifen möchte.

Felix Feigenwinter: Herr Regierungsrat Schmid, können Sie uns vielleicht vorerst - um Missverständnissen über den Gegenstand unseres Gesprächs vorzubeugen – erklären, was man unter der „Gesamtschule“ überhaupt zu verstehen hat?

Arthur Schmid: Das, was man gegenwärtig unter dem Begriff „Gesamtschule“ diskutiert, ist sicher nicht das, was man bisher bei uns im Aargau unter der „Gesamtschule“ verstanden hat. Nach alter Terminologie bezeichnet man ja die alte Dorfschule als Gesamtschule. Die moderne Gesamtschule, um die es heute geht, hat im Prinzip zwei Ausgestaltungen. Das eine, ältere, ist das schwedische Modell, das sich integrierte Gesamtschule nennt und wo der Grundsatz, wonach Schüler von den verschiedensten Intelligenzgraden möglichst lange beeinandergehalten werden, konsequent durchgezogen ist – wie bei uns in der ersten bis fünften Klasse. Das schwedische Modell führt diesen Zusammenhang also weiter auch in der sechsten bis neunten Klasse. Alle Schüler haben den Unterricht praktisch gemeinsam. Und erst von der neunten Klasse an findet dann die Differenzierung statt, wie wir sie bei uns schon ab der fünften Klasse kennen: Die einen bereiten sich fürs Universitätsstudium vor, die anderen entscheiden sich für eine Berufslehre... Das Ergebnis dieses schwedischen Modells ist, dass Lehrlingen und Studenten während neun Jahren grundsätzlich die selbe Grundausbildung haben, mit Ausnahme von möglichen Differenzierungen in den Fremdsprachen und in der Mathematik; dadurch wird das allgemeine Bildungsniveau gehoben. Die zweite Hauptrichtung ist das deutsche Modell, die sogenannte integrierte, differenzierte Gesamtschule. Hier ist die Differenzierung ausgeprägter, indem man in den wichtigsten Fächern zwei bis drei Fähigkeitsgruppen hat. Die Integration ist da sichergestellt in weniger wichtigen Fächern wie zum Beispiel Singen, Turnen, Geschichte, Zeichnen. Die Differenzierung in Gruppen ist insofern interessant, als für die Schüler des selben Jahrgangs nicht stur nur drei Wege offenbleiben, sondern jeder einzelne Schüler kann in einzelnen Fächern entsprechend seinen individuellen Begabungen weiter kommen. 

F.F.: Würden Sie es – als Vorsteher des kantonalen Erziehungsdepartementes – begrüssen, wenn im Kanton Aargau die Gesamtschule verwirklicht werden könnte? 

A.S.: Ich möchte gewisse Sympathien für die Idee der Gesamtschule nicht verleugnen. Es spricht vieles für eine Lösung Richtung Gesamtschule. Ich bin dafür, dass die Chancengleichheit für den einzelnen Schüler verbessert wird. Ich will aber nicht primär der Gesamtschule das Wort reden. Ich könnte mir auch vorstellen, dass wir durch die Verbesserung unseres heutigen Schulsystems wesentliche Vorteile, die eine Gesamtschule bringen würde, ebenfalls erreichen könnten. 

F.F.: Welches Modell der Gesamtschule käme Ihres Erachtens für den Kanton Aargau in Frage? 

A.S.: In unserem Kanton sollte man ein Modell suchen, in dem die positiven Punkte der bestehenden Modelle ausgebaut und die negativen Punkte ausgemerzt werden. Zwei negative Punkte am deutschen Modell sind etwa die, dass man sehr grosse Schulen braucht, und dass durch grosse Differenzierungen ein „Leistungstürk“ entsteht – da hätten wir dann wieder die so verpönte Leistungsschule. Wir müssen den Differenzierungsgedanken also mit grosser Zurückhaltung betrachten. Wegen unserer spezifischen geographischen und soziologischen Verhältnisse wären grosse Schulen ohnehin nicht zu verwirklichen. Und dann spielen auch politische Erwägungen eine Rolle; im Freiamt wäre es undenkbar, nur mit zwei Schulen auszukommen. Unsere Gesamtschule müsste also unseren speziellen regionalen Verhältnissen Rechnung tragen. 

F.F.: Welche Grundlagen wären nötig, um die Gesamtschule im Aargau einführen zu können? 

A.S.: Wenn wir die Gesamtschule generell einführen wollten, so müssten wir zuerst die Totalrevision des Schulgesetzes bewerkstelligen. Unser altes Schulgesetz stammt aus dem Jahr 1940, und ein Schulgesetz, das über 30 Jahre alt ist, kann nicht mehr á jour sein. 

F.F.: Nun ist ja zuerst die Teilrevision vorgesehen... 

A.S.: Richtig. Durch diese Teilrevision sollen bereits Möglichkeiten geschaffen werden, um Versuche für die Gesamtschule durchzuführen. Den Kern der Teilrevision bilden allerdings die Kreisschulen. Ich lege Wert darauf, dass man die Kreisschulen von den Gesamtschulen deutlich unterscheidet.

F.F.: Wann wird das Aargauer Stimmvolk über die Teilrevision entscheiden können?
A.S.: Die Volksabstimmung ist im kommenden Herbst vorgesehen. 

F.F.: Aber schon heute bereitet eine Expertenkommission die Totalrevision vor. Durch das – offenbar indiskrete – Bekanntwerden eines „Vorentwurfs“ zu dieser Totalrevision wurden viele Gegner eines fortschrittlichen Schulsystems auf den Plan gerufen; man vernahm merkwürdige Verdächtigungen und Vorwürfe... 

A.S.: Die betreffende Expertenkommission hat sicher nicht den Auftrag, das Schulgesetz im Hinblick auf die Gesamtschule auf den Kopf zu stellen. Hingegen ist es ihr selbstverständlich nicht verwehrt, nach zukunftsweisenden Lösungen zu suchen. Was den von Ihnen erwähnten „Vorentwurf“ angeht, den ich übrigens bis heute nicht gelesen habe, so wurde er vom Präsidenten der Expertenkommission verfasst. Es handelt sich lediglich um ein Arbeitspapier für die Expertenkommission. Das ist der übliche Weg: Bevor ich mich ernsrthaft mit irgendetwas auseinandersetze, muss es die Expertenkommission gründlich bearbeitet haben. Das ist normal; ein Grund für Verdächtigungen und Vorwürfe besteht meines Erachtens nicht. 

F.F.: Aus welchen Vertretern setzt sich diese Expertenkommission zusammen?

A.S.: Der Präsident ist Mitarbeiter des Erziehungsdepartementes; der Kommission gehören im weiteren ein Schulpfleger, der Rektor der Kaufmännischen Berufsschule in Wohlen und mehrere Vertreter der Lehrerschaft an. 

F.F.: Bis wann, denken Sie, wird die Totalrevision vorgelegt werden können? 

A.S.: Bis in drei, vier, fünf Jahren. 

F.F.: Ein anderer Vorwurf, den man in letzter Zeit oft hört, lautet: In Aarau versucht man durch Steuerung der Ausschreibungen für Schulhausneubauten schon heute die baulichen Grundlagen für die Gesamtschule zu schaffen, so dass später dem Stimmbürger gar nichts mehr anderes übrig bleibt, als eine entsprechende Vorlage gutzuheissen. 

A.S.: Auf dem Hochbauamt scheint ein Sachbearbeiter auf einen möglichst flexiblen Schulhausbau zu tendieren. Das habe ich auch schon gehört; aber das ist gewiss nicht auf einen Auftrag der Schuldirektion zurückzuführen. Trotzdem finde ich es erfreulich, dass man flexibel ist, dass man Reformen nicht verbaut. 

F.F.: Schliesslich noch ein weiteres Urteil, das kürzlich eine Lehrkraft geäussert hat: Die Idee der Gesamtschule entspringe marxistischem Gedankengut und sei schon aus diesem Grund abzulehnen. 

A.S.: Das halte ich für ein Vorurteil, für eine unsachliche Behauptung. Die Gesamtschule ist ein Problem, das über die Parteigrenzen hinweg diskutiert wird. In den Kantonen Basel-Stadt, Luzern und Solothurn zum Beispiel, wo bereits Versuche für die Gesamtschule angelaufen sind, sind die zuständigen Departementsvorsteher Freisinnige beziehungsweise ein CVP-Vertreter, also bestimmt keine Marxisten. 

F.F.: Die Diskussion über die Gesamtschule ist nun zwar auch im Aargau und im Freiamt eröffnet, aber ihr Departement hat sich bisher öffentlich darausgehalten. Gehört es nicht zu Ihrer Aufgabe, früher oder später mindestens mit Informationen ebenfalls in die Auseinandersetzung einzugreifen? 

A.S.: Es ist erfreulich, dass die Bevölkerung durch Kontroversen für das Problem sensibilisiert wird. Es wäre aber falsch, wenn wir in diese erste Phase der Aufklärung eingreifen würden; eine staatlich gelenkte Aufklärung ist nicht wünschenswert. 

F.F.: Herr Regierungsrat Schmid, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.


Anmerkung:  1973 – ein Jahr nach diesem Interview - wurde Dr. Arthur Schmid von der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz zu ihrem offiziellen Bundesratskandidaten als Nachfolger des zurücktretenden Bundesrat Tschudi erkoren. Die Vereinigte Bundesversammlung wählte dann aber nicht den als eher „fundamentalistisch sozialistisch“ geltenden Aargauer in die Landesregierung, sondern den von der bürgerlichen Ratsmehrheit mehr als Pragmatiker eingeschätzten Solothurner SP-Regierungsrat Willi Ritschard.