Der Frühling im Büro

Von Felix Feigenwinter

Das Amt, in dem Fridolin Knoll als Abteilungsleiter und Herr Knüsel als Sachbearbeiter seit Jahren tagaus tagein ihren Dienst versehen, hatte mit der Einstellung von Frau Röösli eine sonderbare Veränderung erfahren: Wenn der Abteilungsleiter das Büro betrat, begrüsste ihn Frau Röösli von einem der Computertische herunter, wo sie barfüssig an neuen Vorrichtungen für die Schlingpflanzen bastelte. Sachbearbeiter huschten giesskannenbewehrt durch die Gänge. Sie versteckten sich im grünen Dickicht ihrer Arbeitsplätze und flüsterten Liebeserklärungen ins buschige Laub, streichelten zärtlich aufkeimende Sprösslinge. Mit Lupengläsern suchten sie nach Läusen. Wurden sie fündig, fingen sie Marienkäfer, denen sie die Blattläuse zum Frasse vorsetzten. Aus dem Gebüsch flötete eine chinesische Nachtigall. Sie pickte den Sachbearbeitern aus der Hand, jagte und verschlang aber auch Marienkäfer. So wuchs die Lauspopulation. Dies wiederum gefährdete das Wachstum der Pflanzen.

Während einer Geschäftsleitungssitzung schilderte der Abteilungsleiter die drastischen Veränderungen seit dem letzten Urlaub. Nach einem kurzen Augenschein beschloss die Direktion, das Büro räumen zu lassen. Frau Röösli wurde entlassen.

Ein Jahr nach diesen Vorfällen schreitet der Abteilungsleiter Fridolin Knoll  zum Fenster, öffnet es gewissenhaft, beugt sich über das Gesims, schnuppert forschend, tritt zurück, breitet die Arme aus und verkündet mit ergriffener Stimme: "Der Frühling hält seinen knospenden Einzug!" Das Büro erstarrt ob solchen Worten, die Beamten blicken verzerrt und verzückt auf den knospenden Strauch vor dem Fenster, der Mutigste wagt eine beipflichtende Bemerkung. Die dienstälteste Sachbearbeiterin eilt zum Fenster, schliesst es beflissen und sachte, worauf Herr Knoll durchs Büro flaniert, sich scheinbar prüfend über ein  herumliegendes Dossier beugt. Fragte man ihn, was er im Dossier suche, er vermöchte es, so wird seit langem vermutet, nicht zu erklären. Seine Bewegungen ähneln den salbungsvollen Verbeugungen der Priester in den Hochämtern mit Segen.

Frau  Wunderlich hat Herrn Knolls Frühlings-Zeremonie verstohlen vom Computertisch aus verfolgt. Ein Gespenst hat sie besucht. Vorletzte Woche begegnete es ihr auf dem Heimweg, im Abenddämmer, und seither folgt es ihr Tag für Tag. Es wartet im Bürovorraum und begleitet sie nach Hause. Nachts setzt es sich auf ihre Brust und schleicht sich in ihre Träume ein. Manchmal vergisst sie es während der Arbeit. Dann glaubt sie, es sei ein Traumgespenst. Zwischen dem Computergeplapper hört sie sein Schnalzen durch die Empfangshalle schallen; sie riecht es und hat das Gefühl, es laure hinter einer Ritze der Bürotür, luge durch die Glasscheibe des Publikumsschalters.

Frau Wunderlich hämmert wie wild auf die Computertasten. Ihre Kollegen sehen sie prüfend, fast scheu an. Sie legen ihre Arbeit zur Seite, spähen nachdenklich durch die Fensterscheibe auf die Vögel im Strauch. Das hektische Klappern erinnere sie an das Zerkleinern von Suppengemüse auf einem Hackbrett, erklärt Frau Knoblauch, die dienstälteste Sachbearbeiterin. Der sonst so schweigsame Herr Knüsel räuspert sich und deklamiert mit anschwellender Stimme:

 

"Die Amsel vor dem Fenster singt

die Sonne durch die Scheibe strahlt

der Kosmos in das Büro dringt

das Amt den Lohn mit Küssen zahlt!"

 

Gestern hatte Frau Wunderlich Herrn Knüsel gefragt, ob er sie abends, nach der Arbeit, in eine Gartenwirtschaft begleite. Unter einem Kastanienbaum tranken sie grosse Biere. Im Abenddämmer leuchtete Knüsels roter Haarschopf wie ein Hahnenkamm; tanzende Fledermäuse umschwirrten die Gäste. Auf die Rückseite einer Getränkekarte schrieb der Büropoet ein  Gedicht, das er Frau Wunderlich überreichte.

Heute,  frühmorgens, hing Knüsels Gedicht am Informationsbrett im Verwaltungsbetrieb; der Bürovorsteher Fridolin Knoll stand kopfschüttelnd davor. Alsdann riss er die Karte vom Brett, zerknüllte sie und warf sie in den Papierkorb.

Herr Knoll wischt sich Schweissperlen von der Stirn, bevor er sich würdig schnäuzt. Er spricht davon, sich vielleicht frühzeitig pensionieren zu lassen.

Der Büroalltag nimmt seinen geordneten Fortgang.