Reise in den Frühling

Von Felix Feigenwinter

Nicht dass Strafgerichtspräsident Belio die Kosten für eine Bahnfahrt erster Klasse gescheut hätte. Warum er an jenem Frühlingsmorgen mit gewöhnlichem Komfort in die Grenzstadt reiste: als er auf den Bahnhof gestürmt kam, schwer atmend und mit pochenden Äderchen auf der Stirn, stand der Zug bereits auf dem Perron, ein Zugführer rief Türen zuschlagend: "Einsteigen bitte", die Billetschalter waren belagert, das sah Belio von weitem, und so kletterte er eben ohne Billet in den erstbesten Leichtmetallwagen und liess sich in einem Zweitklassabteil nieder. Pustend wischte er Schweisströpfchen aus dem Gesicht - man wird alt, dachte er - und putzte die Brillengläser blank. Die Eisenbahnfenster waren geschlossen, aber draussen regierte der Frühling: farbige Pünktchen schimmerten in den saftiggrünen Wiesen, und aus den Ästen sprossen Blätter. Belio sah auch Vögel, die bald am Boden und auf Bäumen hüpften, bald schäkernd in der Luft herumflatterten. Wir Alten erleben den Frühling nicht, wir betrachten ihn hinter Glas, dachte er und seufzte so laut, dass ihn vom gegenüberliegenden Abteil verwundert ein blaues Augenpaar anstarrte.

"Gehst du hier zur Schule?" fragte Belio die Kleine vor dem Bahnhof. Sie trug eine Reissverschlussmappe unter dem Arm und schlenderte planlos über die Fussgängerstreifen. Als Belio den verstörten Ausdruck in ihrem Gesicht sah, wusste er Bescheid. Das Mädchen merkte es; einen Moment lang sah es aus, als wolle es weglaufen, doch dann stand es regungslos da, wie eine Gefangene, der man Handschellen anlegt. Belio ging nicht darauf ein; er schritt weiter, als ob nichts geschehen wäre: "Ich meine nur, wegen der Mappe", sagte er freundlich. Dann: "Bist du zum erstenmal in dieser Stadt?" und: "Wir haben die Schule auch geschwänzt, als wir jung waren. Darf ich dich zu einem Kaffee einladen?"

In einem Lokal, wo ausser Belio nur Jugendliche sassen, fragte der Alte Cola schlürfend: "Warum bist du zu Hause fortgelaufen?" Monica erzählte: die Mutter sah es nicht gern, der Vater ohrfeigte, der Freund - ein siebzehnjähriger Graphikerlehrling - wandte sich ab, und schon war die Fahrkarte einfach, wohlverstanden: einfach, gelöst; einfach, weil Monica nicht mehr zurück wollte, sondern über die Grenze. "Was willst du im Ausland anfangen?" fragte Belio und dachte, sie ist ja noch ein Kind. "Ich weiss es nicht", hörte er sie flüstern, "einfach fort von zu Hause." Belio hielt ihre kleine, weiche Hand in seinen gelben, zerknitterten Fingern und tröstete: "Da wird sich schon irgendeine Lösung finden". Ihm schien, dass das ausgeflogene Küken in das Mutternest zurückkehren müsste.

"Wie kommt man zur Grenze?", fragte Monica, als sie wieder auf der Strasse waren. "Hast du einen Pass?", fragte Belio, und als die Kleine verneinte, hörte er sich sagen: "Man kann auch ohne hinüber". In diesem Moment erinnerte er sich an den Juristenkongress, der vor fünf Minuten begonnen hatte. "Du solltest jetzt aber doch nach Hause", sagte er darum unvermutet, aber das Mädchen drängte ängstlich vorwärts. Es hat keinen Sinn, redete sich Belio ein; wenn ich sie in den Zug setze, steigt sie unterwegs aus und geht doch über die Grenze. Dabei dachte er: ich sollte sie der Polizei ausliefern. "Hier hast Geld fürs Kino", sagte er, "nach dem Kongress hol ich dich ab, dann wollen wir weitersehen."

*

In den Strassen gleissten Neonlichter. "Hat es hier auch Wälder?" - "Warum Wälder?" - "Damit ich schlafen kann", sagte Monica. - "Du würdest dich erkälten, das Radio hat Regen gemeldet." Belios Hand fuhr über die Kinderschultern. "Deine Kleider sind dünn." - "Die Manchesterjacke und die Strumpfhosen geben warm, und ich habe noch einen dicken Pullover", sagte die Kleine. - "Pullover?" - "In der Mappe."  Schweigend gingen sie weiter, an jungen Liebespaaren vorbei: ein Grossvater mit seinem Grosskind...

In einer halben Stunde fährt der letzte Zug, überlegte Belio. Ich nehme sie mit und bringe sie ihren Eltern. "Woran denken Sie?" fragte Monica. - "Du solltest nach Hause." - "Nein, bitte nicht." - "Die Polizei verhaftet kleine Mädchen." - "Ich bin sechzehn gewesen. Gehen sie nur, ich fürchte mich nicht. Ich suche einen Wald." - "In der Stadt gibt es keine Wälder. Aber Parkanlagen."

Schwarze Wolken fuhren am Himmel. Eine Turmuhr durchbrach die Stille. "Halb eins", sagte Belio. Die Kleine ist wirklich noch ein Kind, dachte er.

"Was hast du?" fragte Belio. - "Ich glaube, meine Beine sind eingeschlafen", sagte Monica und bewegte ihre Füsse. Die Holzbank war hart, und es regnete leise. "Wären wir lieber nicht hierhin gegangen", meinte Belio. - "Frieren Sie?" - "Ich nicht", log er, "aber du. Gehen wir spazieren."

Im Hinterhof einer Garage flüsterte Belio: "Hier kannst du schlafen. In sechs Stunden hol' ich dich, dann kommen die Mechaniker", und er klappte die Lastwagentür zu. Ich kann sie doch nicht in ein Hotel mitnehmen, überlegte er.

Im Hotel waren alle Zimmer besetzt. "Sie können gleichwohl hereinkommen, bis Ihr Zug fährt", sagte der Nachtportier und führte ihn in die Bar.

 

Zwei Stunden lang trank Belio Kaffee, Cognac, Kaffee. Dann nickte er ein. Als ihn der Portier weckte, war viertel nach sieben. Wie ein Gejagter fuhr er zur Garage, zuerst im Tram in falscher Richtung, dann im Taxi. Der Lastwagen stand noch im Hinterhof. Als Belio in den Führersitz schaute, war er leer. "Haben sie ein Mädchen gesehen?" Der Mechaniker zuckte die Achseln. Monica war verschwunden.

                     * 

"Wiederholte Zechprellerei, wiederholter Diebstahl, Heroinhandel. Schon mit sechzehn von zu Hause durchgebrannt, über die Grenze, seit einem Jahr in unserer Stadt als Prostituierte.  Man fragt sich, wie ein Mädchen aus rechtem Haus derart auf die schiefe Bahn geraten kann. Asozial, ohne Moral." Gerichtskanzlist Wehrli reichte die Akte dem Gerichtspräsidenten. Belio starrte auf die Anklageschrift, auf das Polizeifoto, auf den Namen der Angeklagten. "Mein Gott", stöhnte er, "Monica!" - "Ist Ihnen nicht gut, Herr Präsident? Sie arbeiten zuviel in Ihrem Alter. In drei Monaten werden Sie pensioniert, geben Sie den Fall doch Ihrem Nachfolger." - "Die Zurechnungsfähigkeit der Angeklagten muss abgeklärt werden", sagte Belio nach einer Pause mit heiserer Stimme; "es muss ein psychiatrisches Gutachten bestellt werden. Das ist alles, was ich für die Angeklagte... für diesen Fall noch tun kann. Mein Nachfolger muss ihn dann übernehmen."  

 

Diese Geschichte wurde in den frühen Sechzigerjahren geschrieben und erschien erstmals unter dem Titel: "Er kannte die Angeklagte" in den "Basler Nachrichten". Ca. 20 Jahre später wurde sie, vom Autor leicht verändert, in der "Ciba-Geigy-Zeitung" (Nr.4, 1985) veröffentlicht.