Die Stimme

Von Felix Feigenwinter

 

Als gesundheitlich angeschlagener Rentner verkrieche ich mich abends normalerweise vor dem Eindunkeln in meine Wohnung, und tagsüber meide ich grössere Menschenansammlungen. Meine Geh- und Sehbehinderung zwingt mich zur Vorsicht. Aber der Jahrmarkt im Herbst fordert mich heraus – da wage ich mehr als gewöhnlich; der Rummelplatz weckt Jugenderinnerungen und Sehnsüchte.


Da stehe ich nun, berauscht von einer verführerischen Stimme, die fürsorgliche Anteilnahme verströmt und das Abenteuer der Fahrt mit der Himmel-und-Hölle-Bahn warmherzig und voller Humor und Phantasie anpreist.

Die Erfüllung dieses Abenteuers versage ich mir: Allein schon der Gang zum Kassenhäuschen durchs Gedränge der hier wimmelnden Jahrmarktsbesucher erscheint riskant, und der Aufstieg auf einer für mich nur verschwommen erkennbaren Treppe zur unübersichtlichen Plattform, von wo aus zur Himmel-und-Hölle-Fahrt gestartet wird, birgt wohl erst recht Tücken – ein Wagnis, das auf mich zu nehmen ich als unnötig erachte, versetzt mich doch die  Stimme in einen vollends glücklichen und schwebenden Zustand, der keiner weiteren Steigerung bedarf. Die Stimme kann ich geschützt in meiner Nische neben einer Würstchenbude ohnehin besser geniessen als auf der sausenden Fahrt hinauf in den Himmel und hinunter zur Hölle, eingepfercht in einer windigen Kabine.

Für meine Verhältnisse spät in der Nacht verdrücke ich mich taumelnd nach Hause. Wie ich die folgenden Stunden verbringe, die Nacht durchlebe, den nächsten Morgen überstehe? Ich schwanke zwischen Himmel und Hölle, schwelge vorerst im Glück der Erinnerung an die Stimme, doch zunehmend ergreift mich ein schmerzliches süchtiges Sehnen, bis ich am nächsten Nachmittag erneut zum Rummelplatz strebe, gierig bereit, der berauschenden Stimme zu lauschen. Von wo aus nur spricht die Begnadete, sendet sie ihre ergötzlichen Worte in den Herbst und zu mir, streut sie ihre Rede unters Jahrmarktsvolk? Um es herauszufinden, verlasse ich meine Horch-Nische bei der Würstchenbude und schleiche nun doch ganz nah zum Kassenhäuschen, wo sich eine Schlange unternehmungsfroher Himmel-und-Hölle-Besucher gebildet hat. Durch eine Sichtscheibe starre ich ins Häuschen und sehe nur eine Frau, die Billete verkauft, keine Verzauberin. Ich forsche weiter und eruiere über der Plattform ein weiteres Häuschen – hier drin vermute ich sie; meine Sehschwäche erlaubt keine genaue Erkundung...

Dann plötzlich verstummt die Zauberstimme, und da ich immer noch unverwandt zum hohen Häuschen spähe, wähne ich zu sehen, wie dort eine nebulöse weibliche Gestalt erscheint, die, ihren Mantel zuknöpfend, aus dem Eingang tritt, die Tür schliesst und sich anschickt, auf der Leiter zur Plattform hinunter zu steigen, von wo aus sie, deutlicher erkennbar, auf einer Treppe direkt auf mich zukommt. Ganz nah geht sie an mir vorbei, mustert mich, den ihr Unbekannten, mit intensiv fragendem Blick, wie mir scheint, und mischt sich dann unters Jahrmarktspublikum, das sie mit ihrer klingenden Stimme eben noch bezirzt hat. Das ist sie, die Verzauberin – keine gewöhnliche Jahrmarktsfrau; ich sehe eine selten aparte Dame, eine menschliche Göttin, vielleicht eine ausgebildete Schauspielerin, die vom Besitzer der Himmel-und-Hölle-Bahn als Sprecherin engagiert wurde...

Zutiefst bewegt bemühe ich mich, die Kostbare, die sich mir endlich zeigt, nicht aus meinen getrübten Augen zu verlieren – was schwierig ist in der Menschenmenge, durch die sie nun schreitet, quer über den Rummelplatz Richtung Einkaufsstrasse, die zum Stadtzentrum führt. Die Abendsonne blendet mich; sie hängt tief im Westen hinter der Stadt und durchflutet mit ihren Strahlen die Einkaufsstrasse. In ihrem Feuerglanz verschwindet die Zauberin.

Am nächsten Tag ist auch der Jahrmarkt verschwunden. Auf dem vom Rummel entleerten Platz stehen Lastwagen mit den zusammengeklappten Bestandteilen der Himmel-und Hölle-Bahn, bereit zur Abfahrt zum nächsten Jahrmarkt in einer mir unbekannten Stadt. Der Platz hat den Zauber verloren.

Das Suchtmittel wurde mir entzogen; meine Sehn-Sucht bleibt ungestillt.