Der Retter

Von Felix Feigenwinter

Mario lässt sich erschöpft auf sein Bett fallen. Nur die Hose hat er ausgezogen, um die Bügelfalten zu schonen; sie hängt, schon etwas zerknittert, über der Lehne eines Stuhls, über dem ein Bild schwebt, das er früher selbst gemalt hatte, als er noch Künstler werden wollte. Mario weiß inzwischen, dass seine Bilder von niemandem begehrt oder auch nur gebraucht werden; er versuchte es später als Kunsthändler, aber auch damit hatte er keinen Erfolg. So trat er schließlich in eine Versicherungsgesellschaft ein, wo man ihn vor kurzem zum Abteilungsleiter vorgeschlagen hat.

Durchs offene Fenster, durch den Spalt der Gardinen, dringen gebrochene Sonnenstrahlen und für Mario zum Teil unerklärliche Geräusche: ein sich hartnäckig wiederholendes metallisches Kratzen (vielleicht eine Katze oder ein Vogel im Dachkänel); ein dumpfes Scharren; dazwischen die klaren Stimmen spielender Kinder; im Hintergrund das verschwommene Dröhnen von Automotoren, ein heilloses Durcheinander. Dann plötzlich auch das Rauschen eines Wasserstroms. Mario wundert sich: seines Wissens gibt es in diesem Quartier keinen Fluss, auch nicht in der näheren Umgebung! Aber das lang anhaltende Geräusch ist nicht zu überhören, auch nicht zu verwechseln. Der vergebliche Wunsch, dieses Rätsel zu lösen, nimmt Marios Gedanken für Minuten gefangen. Schließlich vermutet er, eine Halluzination zu erleben; mit dieser Vermutung schlummert er ein.

Als er erwacht, dringen unangenehm scharfe Stimmen durch den Gardinenschlitz: es sind Nachbarsleute, die auf einer Dachterrasse ein Fest feiern. Ihre schrillen Kommentare über ein gewesenes oder kommendes Fußballspiel haben ihn geweckt. Die Sonne ist längst über den Dächern verschwunden.

Nachdem er geduscht hat, verlässt Mario das Haus, die aufgeregten Nachbarn auf der Dachterrasse ohne Gruß hinter sich lassend.

Nach einer Fahrt in die Dämmerung gelangt er ans Ufer eines Flusses, der, als Folge der Gewitter der letzten Nacht, viele Hölzer, ja ganze Sträucher und kleine Bäume mit sich schwemmt. Eine Weile staunt Mario in den wild reißenden Strom, bis er sich selber in die Fluten stürzt. Er ist ein guter Schwimmer, und er vermutet, dass er, wenn er nur will,  nicht untergehen müsste. Aber diesen Ehrgeiz verspürt er schon gar nicht mehr. Er beschließt, sich vollständig dem Wasserstrom hinzugeben, und er empfindet dies als weitaus angenehmer als die Auslieferung an die Vorgesetzten im Geschäft, die Kämpfe um höhere Umsätze und das verlangte Renommiergehabe unter den Arbeitskollegen in der Firma, deren Ziele er schon lange nicht mehr begreift. All diese enttäuschenden, erwürgenden Erfahrungen sind für ihn nur noch blasse Erinnerungen, geradezu lächerlich, und auch die am Ufer jetzt auftauchenden Häuser, Autos und menschliche Gestalten erfasst Mario als schnell vorüberziehenden, schattenhaften, für ihn bedeutungslosen Spuk. Nur sehr undeutlich, verzerrt, sieht er einen die Arme schwenkenden Mann am Ufer, der ihm etwas zuzurufen scheint. An mehr kann sich Mario nicht erinnern.

Als er das Bewusstsein wiedererlangt, beugt sich ein Arzt mit grüner Gesichtsmaske über ihn. Man hat ihn aus den Fluten in die Notfallstation des Kantonsspitals überführt. Auch sein Retter ist anwesend; er schüttelt Mario die Hand, als ob er seinen Dank erzwingen wollte, und tatscht ihm kumpelhaft an die Schulter. Da Mario seit jeher ein schlechtes Namensgedächtnis hat, was ihm auch seine Arbeit bei der Versicherungsgesellschaft erschwert, vergisst er den Namen des Retters sofort. Er vermutet aber, er würde in der Zeitung publiziert; vielleicht würde der Mann sogar als Held ausgezeichnet und von einem Regierungsrat empfangen. Diese Überlegungen bedrücken und befremden ihn; der einzige Gedanke, mit dem er sich noch identifizieren kann und der ihn auch beschäftigt, als man ihn nach Hause entlässt, mündet in die Frage: „Was wollen die von mir?“

Eine Antwort darauf scheint das Schreiben zu enthalten, das Mario an jenem Morgen seinem mausgrauen Briefkasten entnimmt, auf dem zwei verwitterte Kleber befestigt sind, die er zum erstenmal wahrnimmt. „Mehr Geld. Jahr für Jahr“, liest er auf dem einen, grünumrandeten, „Ruhige Reise“ auf einem himmelblauen, auf dem ein Männchen mit Koffer auf einem roten Scheckheft sitzt. Aus dem Briefumschlag zieht Mario einen „Kursbefehl“ des Amtes für Zivilschutz zu einem „Grundkurs für Schutzraumchefs". Als Kurszweck wird die „Einführung in die Aufgaben des  Schutzraumchefs“ und die „Grundausbildung zum Vorgesetzten für die Leitung und Betreuung im Schutzraum“ angegeben. Fassungslos starrt Mario auf den Zettel, auf dem mit roter Farbe der Hinweis „Gilt als Aufgebot“ aufgestempelt ist. Der Name des Kursleiters scheint identisch zu sein mit jenem, den ihm sein Lebensretter zugeraunt hatte. Mario hält es für möglich, ja geradezu für zwingend, dass ihm der Retter den Kursbefehl geschickt hat. Der Zusammenhang scheint einer quälenden Logik zu entsprechen.

 

(Erschienen am 10.11.1985 in der „Literaturzeitung“)