Ein unerklärlicher Fall

Von Felix Feigenwinter

 

Es spreche da die Leitstelle der städtischen Verkehrsbetriebe, behauptete eine sonore Stimme durch die Tramlautsprecher; auf der Strasse zwischen Pauluskirche und Margarethenbrücke sei der Tramverkehr ab sofort wegen eines aussergewöhnlichen Vorfalls gesperrt. Der Einsatz von Extrabussen sei nicht möglich. Es werde gebeten, die betreffende Strecke entweder zu umfahren oder zu Fuss zurückzulegen; man danke für die Geduld und das Verständnis.

Die Meldung erweckte bei den Frühaufstehern weder Geduld noch Verständnis. Mürrisch ergoss sich die schläfrige Masse aus dem Tram auf die Strasse, wälzte sich über die vom hellen Osthimmel fahl erleuchtete Brücke, an deren entferntem Ende, wo eine  Baustelle war, ein riesenhaftes Sprungkissen die Fahrbahn versperrte, sich Leitern in den wolkenlosen Himmel reckten.  Über die Strasse ragte horizontal der Metallarm eines Baukrans, auf dem ein menschliches Lebewesen kauerte. Neugierige blieben stehen, spähten zur Unbekannten in der luftigen Höhe, stauten sich zu einer dunklen Ansammlung stummer Empörungsgenossen. Die Begierde zur Revolte wurde spürbar, blieb aber im Korsett jahrzehntelang eingeübten Disziplinierungsverhaltens eingeschnürt.

"Wir finden alle!" rief nun ein zuoberst auf einer der Leitern angelangter Beamter des Polizeidepartementes zur offensichtlich verängstigten Frau.

 Aber die Unbekannte befreite sich aus ihrer Kauerstellung, in der sie offenbar die Nacht verbracht hatte, und begann sich ihrer Kleidung zu entledigen. Der Rock, ein schönes blaues Tuch, flatterte zu Boden, hinterher purzelten die Schuhe. Plötzlich sprang die Frau vom Metallarm und fiel, zum Entsetzen der Gaffer, in die Tiefe, nicht aufs bereitgehaltene Sprungkissen, sondern in umgekehrter Richtung, in die endlose Weite des lichtdurchfluteten Morgenhimmels, klein und kleiner werdend bis zur Unsichtbarkeit. Wie ein entschwindender Luftballon.

"Ist heute Mariä Himmelfahrt?" witzelte ein Schüler aus der erstarrten Menge. "Wenn man bedenkt", sinnierte dagegen ein Herr, der sich als Betriebsökonom zu erkennen gab, "welchen Schaden ein solcher Vorfall verursachen kann... wie viele Personen nun wohl zu spät zur Arbeit kommen?" Ein Rentner entfaltete ein sorgfältig gebügeltes Taschentuch, schnäuzte wütend hinein und murrte: "Ich habe es satt, Leute zu bewundern, die um jeden Preis originell sein wollen. Und das alles auf Kosten der Steuerzahler!" Nur eine Serviertochter, die in einem nahen Café angestellt war, äugte immer noch zum wolkenlosen Himmel, wo die aufsteigende Sonne einen strahlenden Tag verhiess: "Es gibt noch Wunder!"

 

(Geschrieben 1991)