Die Lesung 

Von Felix Feigenwinter

 

"Ich habe die Tendenz, zu verschwinden", hatte er ihr gesagt, und weil er es im Zusammenhang mit seiner Ehescheidung erwähnte, fragte sie ihn, ob er Zyniker sei. "Nein", antwortete er dezidiert, "ich leide. Ein Psychiater sagte mir: 'Sie reiben sich an der Realität'. Damit hat er die Problematik natürlich verniedlicht. Aber das tun alle Psychiater."

Fabian hatte sie mehrere Wochen nach ihrer Einweisung in die Psychiatrische Klinik im Patientencafé kennengelernt. Er erzählte ihr von seiner Angst, in der Wohnung im elften Stock eines Hochhauses sterben zu müssen, in die er kurz nach seiner Verehelichung eingezogen sei. Nicht vor seinem Tod an sich habe er sich gefürchtet, oh nein, der ängstige ihn nicht. Gepeinigt habe ihn die Vorstellung, sein Leichnam hätte vom elften Stockwerk zur Erde getragen werden müssen. Da er seit langem herzleidend sei und zudem an Asthma leide, habe er sich nur noch durch den Auszug aus dieser Wohnung retten können. Seine Frau habe ihm die Flucht übel genommen.

"Die Scheidung wäre vielleicht zu vermeiden gewesen, wenn Sie in eine Parterrewohnung umgezogen wären?" erwog die Zuhörerin.

"Möglicherweise", überlegte nun Fabian, "das Problem war doch, dass ich mir nicht vorstellen konnte, wie man mich durch das viel zu enge Treppenhaus an den kurzen Ecken vorbei hätte hinunterschaffen sollen. Und der Transport im Lift war noch unvorstellbarer. Der Lift war so eng, dass nicht einmal zwei vollschlanke Erwachsene darin unbedrängt Platz gefunden hätten, geschweige denn ein auf einer Bahre ruhender Toter. Es war für mich eine Zumutung von Würdelosigkeit, der ich mich entzog."

"Wie hat Ihr Psychiater darauf reagiert?" fragte die Zuhörerin.

"Der meinte kühl, Leichen aus einem Hochhaus könnten an der Fassade abgeseilt werden. Was soll's?" seufzte Fabian, "inzwischen habe ich mich damit abgefunden, dass Psychiater gar nicht wirklich zuhören. Trotzdem las ich ihm  eine Geschichte vor, die ich vor einigen Jahren geschrieben habe."

Ob er denn Schriftsteller sei, wollte die Zuhörerin nun wissen.

"Nicht eigentlich", erklärte Fabian; als junger Mensch habe er, nachdem er eine kaufmännische Lehre beendet habe, während vier Jahren in einer Speditionsfirma gearbeitet; doch das sei nicht gut gegangen. Nach einem halbjährigen Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik habe er die Matura nachgeholt, habe Philosophie zu studieren begonnen und dazwischen immer wieder als Aushilfe in einer Zeitungsredaktion gearbeitet; da habe man ihn für  Vertretungen von Militärdienst leitenden Korrektoren und Redaktoren gebraucht. Aber seit langem sei er arbeitslos, und heute lebe er von einer Invalidenrente.

Er musterte sie mit seinem traurigen Reptilienblick, und mit heiserer Stimme fragte er, ob sie die Geschichte hören wolle.

Die Frau bejahte, denn plötzlich war ihr abenteuerlich zumute.

Mit geducktem, ruckartigem Gang verschwand Fabian aus dem Café, um nach wenigen Minuten zurückzukehren, ein mit nervöser Schrift bekritzeltes Toilettenpapier in der Hand schwenkend.

Die Geschichte, die er seiner Zuhörerin vorzulesen begann, hörte sich verständlich an. Sie handelte von einer Frau, einer "unauffällig gekleideten, eher schmächtigen Besucherin unbestimmten Alters", wie es der Autor akribisch formulierte, "die auf dem Quartierspolizeiposten erschien, wo sie vorsichtig belächelt, väterlich ermahnt und endlich, als ihr eindringlicher Redefluss dennoch nicht versiegen wollte, energisch zurechtgewiesen wurde. Eine Anzeige sei in ihrem Fall nicht möglich, erklärten die Polizeimänner im Chor", las Fabian mit leise bebender Stimme, "die Beweislast blieb unberücksichtigt, die vorgelegten Zeitungsartikel wurden nur flüchtig beachtet; die Tonbandaufnahmen mit Reden von Weltpolitikern und Militärstrategen fanden kein Gehör. 'Sie ist verwirrt', entschied der Postenchef, und statt Anstalten zu treffen, die zur Verhaftung von Tätern geführt hätten, begleitete ein Polizist die Aufgebrachte in die Psychiatrische Klinik."

An dieser Stelle sah Fabian vom Toilettenpapier auf und musterte seine Zuhörerin grüblerisch. Diese senkte den Blick, weil sie dachte, jetzt will er mir vielleicht meine eigene Geschichte erzählen, und das stimmte sie verlegen. Doch Fabian vertiefte sich erneut ins Manuskript und fuhr fort:

"Dort wurde sie mit einem anmutig schmunzelnden, älteren Herrn zusammengeführt, den man ihr als 'Doktor Friedli' vorstellte, und diesen versuchte sie von der Berechtigung ihrer Anklage zu überzeugen. 'Sie haben vollkommen recht', meinte Doktor Friedli, indem er seinen leicht schiefen Krawattenknopf gelassen zurechtdrückte, 'die Leute, die uns mit Massenvernichtungswaffen bedrohen, sind eigentlich Kriminelle.' - 'Aber sagen Sie doch', insistierte die Frau, 'wo finden wir die Richter, die den Mördern das Handwerk legen?' - Doktor Friedli rieb sich die Hände, schaukelte den Kopf und diagnostizierte versonnen: 'Sie reiben sich an der Realität, gute Frau; ich kann Ihnen nur empfehlen, dem Zivilschutz beizutreten.' Die Frau bedankte sich und verließ die Klinik. Zuhause meldete sie sich bei der örtlichen Zivilschutzorganisation, und ihr gestörtes Verhältnis zur Wirklichkeit begann sich zu klären. Bereits im Einführungskurs, wohin sie nach einigen Monaten einzurücken hatte, hörte sie, die Pulverisierung von Menschen sei auch in Schutzanzügen und Zivilschutzkellern möglich im Falle eines Nuklearangriffs, auf den es sich vorzubereiten gelte. Der Kursinstruktor, ein flotter jüngerer Mensch, beruhigte indes, es gäbe auch durchaus friedliche Störfälle, auf  die  einzustellen sich lohne. Hierauf ergriff der Instruktor eine Schutzmaske und stülpte sie sich übers Gesicht; alsdann forderte er die Kursteilnehmer auf, es ihm gleichzutun."

Fabian legte das Toilettenpapier auf das Kunststofftischchen und schnappte nach dem letzten Schluck Kaffee.

"Ist die Geschichte zu Ende?" fragte die Zuhörerin unsicher.

"Nein", sagte Fabian, "wollen Sie den Schluss auch hören?"

"Ein Happy-End?"

"Das wäre wohl Kitsch", meinte Fabian, und er sah wieder auf das zerknitterte Toilettenpapier und las:

 "Schon kurze Zeit danach erreichte die Frau das Aufgebot zu einem Weiterbildungskurs. Es war ein bewegter Samstagmorgen. Die Frau saß in der Küche ihrer Mietwohnung im elften Stock eines Hochhauses am Stadtrand. Soeben hatte eine Stimme am Radio die Zehn-Uhr-Nachrichten verlesen. Die Frau las das Aufgebot wie abwesend; dann faltete sie das Papier zu einem Spielzeugflugzeug und trat damit auf den Balkon, wo sie es dem Wind überließ. Inmitten von wild aufgewirbelten Baumblättern schoss es in die Weite Es verstrichen nur wenige Sekunden, bis die Frau aufs Balkongeländer kletterte. Unbeachtet von den in ihre Wohnungen verkrochenen Nachbarn fiel sie in die Tiefe. Sie stürzte schnell und leicht, und ihr Rock flatterte wie eine Fahne im Wind. Doch nun hob ein Sturm an. Blumentöpfe zerbrachen, und vielerorts klirrte Glas."

Sichtlich erschöpft von der Anstrengung des Vorlesens versorgte Fabian das Toilettenpapier in seiner Kitteltasche, und danach erhob er sich, zitternd wie ein Greis, und verließ das Café ohne hörbaren Gruß.

 

(Geschrieben 1993)