Als Frau Braun Tellenbach empfing

von Felix Feigenwinter

 

Als sie sich noch nicht vorstellen wollte, ein Kind auszutragen, zu gebären und aufzuziehen, bestieg Frau Braun an freien Nachmittagen Eisenbahnzüge, um eine ferne Stadt zu erreichen, die ihr bedeutender, glanzvoller, ja geheimnisvoller erschien als der, wie sie fand, ein wenig schäbige Ort, wo sie aufgewachsen war und immer noch wohnte. Dann schlenderte sie durch die ihr endlos scheinende, breiteste und längste Geschäftsstrasse jener Metropole und bewunderte die Schaufenster der Bijoutiers. Da verharrte sie vor prächtigen Schmuckstücken - Broschen, Colliers, Ringen - , in kunstvoller Handarbeit gefertigten Luxusgütern, liess sich berauschen vom Anblick funkelnder Brillanten, leuchtender Rubine und Smaragde sowie geheimnisvoll schimmernder Opale, für sie Augenblicke fast vollkommenen Glücks.

Einmal verirrte sie sich in einem dieser Läden, betört durch einen besonders prächtigen, selten grossen und strahlenden, in geschmeidiges Gold gefassten Diamanten, der mit keinem Preisschild versehen war. Sogleich erschien ein in aparte Seide gekleideter, dezent parfümierter junger Herr, der sie, wie sie erschrocken konstatierte, mit unbewegt-freundlicher Miene  vom Scheitel bis zur Sohle diskret musterte und sich gleichzeitig in leise süffisantem Ton nach ihrem Begehren erkundigte. Mit stockender, vor Verlegenheit belegter Stimme fragte sie nach dem Preis der im Schaufenster strahlender Köstlichkeit. Ihre kindliche Verblendung, ihre wahrhafte Begeisterung war angesichts des distinguierten Jünglings bereits relativiert worden, der wie im Traum aus einer für sie in Wirklichkeit unerreichbaren Welt vor ihr aufgetaucht war. Der feine junge Herr lächelte beharrlich, nun aber eher bedauernd als süffisant, wie ihr schien ("er ist eben doch ein kultivierter Mensch mit angenehmen Manieren und vielleicht sogar Herzensbildung", erwog Frau Braun besänftigt, "möglicherweise der Sohn des Geschäftsinhabers"), und er sagte mit höflicher Stimme: "Vierundsiebzigtausend". Erschüttert verbeugte sich Frau Braun, und sie flüchtete aus dem Laden, ein unsinniges "Aufwiedersehen!" und "Entschuldigung!" stammelnd; dabei versuchte sie, jeden Blickkontakt mit diesem Prinzen aus dem Reich der Millionäre und Milliardäre zu vermeiden, obwohl er ihr die Türe hielt.

Seit diesem Erlebnis verzichtete Frau Braun auf Abstecher in die entfernte Stadt. Statt Bijouterieläden besuchte sie nun regelmässig den einheimischen Flohmarkt, der einmal wöchentlich in einer kleinen Parkanlage veranstaltet wurde, wo sie sich drei hübsche Silberringe erstand, die mit Bernstein, Mondstein und Bergkristall ausgestattet waren. Dafür musste sie ein Tausendstel des Preises des für sie unerschwinglichen Diamantenschmucks des auswärtigen Juweliers bezahlen, wie sie sich ausrechnete, und allmählich begriff sie, dass ihre frühe Faszination über den Schmuckzauber in den Bijouterieläden eine Verirrung war, die sie sich eigentlich nicht erklären konnte. Auf dem  Trödlermarkt mit seinem unter Parkbäumen auf Tüchern und Tischen ausgebreiteten Tand aus zweiter und dritter Hand, mitten unter dem vielfach arm und ärmlich gekleideten, kunterbunten Käufer- und Verkäufervolk fühlte sie sich geborgen.

Ausserdem leistete sie sich den Luxus einer Hauskatze, die ihr eine Arbeitskollegin vermittelte. Das Tier taufte sie auf den Namen "Diamant"; doch nun musste sie sich eine neue Unterkunft suchen, denn ihr bisheriger Wohnungsvermieter, der Hundebesitzer war, misstraute und hasste Katzen, wie er ihr offen und feindselig zu verstehen gab. So machte sie sich auf die Suche nach einer neuen Bleibe, und sie fand sie im Haus eines Herrn Tellenbach.

Als Frau Braun in die neue Wohnung zog, war sie noch ahnungslos. Nach und nach erfuhr sie von Nachbarn, vorerst in beunruhigenden Andeutungen, bald jedoch mit ungeschminkter Deutlichkeit Einzelheiten über die bedenkliche Vergangenheit des neuen Wohnungsvermieters.

Nicht dass sie Tellenbach gefürchtet hätte; der Alte verhielt sich ihr gegenüber vom ersten Tag an korrekt, sogar - so schien ihr - freundschaftlich und herzlich. Aber es fehlte ihr die Erfahrung mit einem Mann, der einen anderen Menschen erschossen hatte (so etwas kannte sie nur aus Filmen oder Kriminalromanen, die sie früher als Schülerin heimlich gelesen hatte, und aus der Tagesschau, nicht aus ihrem eigenen Leben). Deshalb war sie ratlos, wie sie sich ihm gegenüber verhalten solle. Anfänglich genierte es sie, ihm im Treppenhaus oder im Garten zu begegnen. Frau Braun arbeitete als Verkäuferin als Mädchen für alles in einer Holzofenbäckerei mit angegliedertem Laden, in dem sich auch ein kleines Café befand, zu einem bescheidenen Monatslohn, und deshalb war sie froh, in Tellenbachs Haus günstig wohnen zu können. Trotz ihrem Wissen um Tellenbachs makaberen Hintergrund hatte sie sich behaglich eingenistet.

An jenem Vorfrühlingsabend war sie spät von der Arbeit nach Hause gekommen. Immer noch in Schuhen, begoss sie ihre Blumen aus der Plastikkanne, die tagsüber und nachts im Badezimmer die Tropfen aus einem undichten Wasserhahn sammelte. Tellenbach war über den ärgerlichen Defekt informiert; er hatte ihr schon letzte Woche versprochen, für Abhilfe zu sorgen, doch bisher war nichts geschehen. Auf dem Balkon schob sie das Katzen-leiterchen zurecht, das der Wind während ihrer Abwesenheit verrückt hatte, in der Hoffnung, ihr seit Tagen vermisster Kater würde endlich zurückkehren... Danach zog sie sich ins Wohnzimmer zurück, um fernzusehen. Noch bevor sie den Apparat anstellte, hörte vom Fenster her ein Kratzen. Der angelehnte Fensterflügel wurde aufgeschoben - ein Schatten huschte ins Zimmer. "Diamant" sprang zu ihr aufs Sofa, begrüsste sie schnurrend, kitzelte sie mit seinem Barthaar, der Heuchler. Und während sie sich über das Wiedersehen freute, den Kater zärtlich küsste und streichelte, schrillte die Wohnungsglocke. Als sie die Tür öffnete, stand Tellenbach vor ihr, einen Werkzeugkasten in der linken Hand schwenkend. In ihrer Euphorie hätte sie den Mann umarmen können (statt dessen lachte sie nur, denn sie dachte an die Nachbarin, die ihr erzählt hatte, ihr Mann sei wegen Tellenbach eifersüchtig geworden, nachdem dieser in ihrer Wohnung die Toilette reparieren kam: "Du schwärmst für Männer, die Klodeckel flicken", habe er gegiftelt.) Nachdem Tellenbach den lecken Wasserhahn im Badezimmer dicht gemacht hatte, bat sie ihn ins Wohnzimmer und offerierte ihm ein Glas Wein aus der Flasche, die ihr Tellenbach zur Begrüssung, als sie in die Wohnung eingezogen war, geschenkt hatte.

"Gut, dass Ihr Tier wieder zum Vorschein gekommen ist", meinte er, nachdem sie ihm vom Verschwinden des Katers berichtet hatte, "es hätte mich nicht gewundert, wenn es sich herumgesprochen hätte, der schreckliche Tellenbach habe die Katze eingefangen und als Gulasch verzehrt!"

"So etwas würde ich nie von Ihnen denken!" heuchelte Frau Braun erschrocken.

"Das meine ich auch nicht", begütigte der Gast auf dem Sofa; "ich esse übrigens gar keine Tiere, ich bin ein überzeugter Vegetarier. Aber sicher hat Ihnen zum Beispiel auch schon jemand erzählt, ich hätte als gelernter Zahntechniker eine Bestattungsfirma gegründet, um den Toten das Zahngold aus den Mündern zu klauen?!"

"Man munkelt viel", wagte Frau Braun zuzugeben, "zum Beispiel, sie hätten früher ihren Vorgesetzten erschossen, den Besitzer eines zahntechnischen Labors."

"Das ist richtig. Das habe ich getan, als junger Mann. Dieser Kerl war ein Menschenschinder, ein Sadist. Er hat mich gedemütigt, gekränkt bis ins Innerste. Ich habe für meine Tat gebüsst, habe einige Jährchen meiner Jugend  im Knast verbracht."

Tellenbach schien Wert darauf zu legen, sie davon zu überzeugen, dass er kein Mörder sei, sondern ein leidenschaftlicher Idealist, der heroisch gegen Unterdrückung und für Gerechtigkeit kämpfe.

Frau Braun war verstummt ob der Bekenntnisse des kauzigen Alten. Und Tellenbach holte weiter aus: Als ihm jemand seinen Namen "Wilhelm Tellenbach" auf dem Schild seiner Bestattungsfirma mit blutroter Farbe überschmiert und auf "Wilhelm Tell" gekürzt habe, habe er die Schmiererei neben dem Hauseingang absichtlich gelassen, bis er den Betrieb liquidiert habe. "Sie können das Schild heute in meiner Wohnung bewundern. Wilhelm Tell! War das ein Mörder?"

Die bizarrste Nacht ihres Lebens durchwachte Frau Braun in den Armen des grauen Heroen, der sie schwängerte. Sie trug das Kind aus, mit stolzer Beharrlichkeit und voller Würde, im Bewusstsein, dass sie den verrückten alten Kerl aus dem  Dachstock nie heiraten würde, dass er aber sie und ihr Kind trotzdem nicht im Stich lassen wolle. Dem Alten gegenüber verspürte sie keine Zuneigung, schon gar keine "grosse Liebe", nichts dergleichen; sie verdankte ihm ihr Kind, das genügte. Insgeheim hielt sie sich für eine Geschädigte. Nach heftigen Gefühlen nach einem Mann stand ihr nicht der Sinn.

Doch Tellenbach machte keine Anstalten, für das Kind aufzukommen. Er erklärte ihr, sie sei selber schuld; er habe nie ein Kind gewollt.

 

Dieser Textentwurf entstand im Jahr 1994.