Basellandschaftliche Zeitung“ 25. Oktober 1980

 

Die Malerin Anna Grauwiller

Von Felix Feigenwinter

Die kleine, gemütliche Altwohnung, in der ich die junge Malerin Anna Katharina Grauwiller mitten in der Grossbasler Altstadt besuche, erinnert an eine Bauernstube. Sie ist mit alten, währschaften Holzmöbeln eingerichtet, und in einer Zimmerecke steht ein kleines Leiterwägelchen, in dem Holzscheite lagern. Das Holz wird zum Heizen benützt, denn eine Zentralheizung gibt es hier nicht. Es mag kein Zufall sein, dass Anna Grauwiller, die in einer weitaus moderneren Wohnung in Binningen aufgewachsen ist, das einfache Leben wählte. Ihre Stadtwohnung in der Nähe des Spalenbergs wirkt ländlich-idyllisch. Mütterlicherseits reicht ihre Verwandtschaft ins Oberbaselbiet: Ihr Grossvater war der verstorbene Bauerndichter Hans Gysin aus Oltingen. Seine gütige Persönlichkeit und seine Mundartverse haben die junge Lehrerstochter früh beeindruckt. So trägt sie sich heute mit dem Gedanken, Hans Gysins Gedichte zu illustrieren.

Autodidaktin, „naive“ Malerei

Anna Grauwiller ist eine „naive Malerin“, eine Autodidaktin, die unbelastet von akademischen Vorgaben eigenen individuellen Vorstellungen und Qualitätsansprüchen folgt. Als Aussenseiterin, auch ohne Vorbilder aus dem Kunstmuseum, das sie in ihrem bisherigen Leben ein einziges Mal besucht hat, geht sie ihren eigensinnigen, stillen, oft auch einsamen Weg und und hat dank glücklicher Umstände Zugang zur Kunst- und Künstlerwelt gefunden: Ein Bekannter, der selber malt und ihre unverdorbene Begabung erkannte, ermutigte sie zur Teilnahme mit drei Bildern an der Weihnachtsausstellung der Basler Künstler in der Kunsthalle am Steinenberg – und siehe da: Ihre Werke wurden von der gestrengen Fachjury nicht nur angenommen, sondern eines ihrer Bilder fand auch gleich einen Käufer. Ein anderer glücklicher Zufall war die Begegnung mit einer Zeichnerin, welche die eher menschenscheue Anna den zuständigen Herren einer Basler Bank erfolgreich für eine Vitrinenausstellung empfahl.

Angesichts von Annas autodidaktischem Werdegang als Malerin erstaunt die farbliche und formale Gestaltung, auch die von Arbeit zu Arbeit ausgefeiltere, von liebevoller Sorgfalt geprägte Technik. Ihre farblich immer geschmackvollen, mit inniger Behutsamkeit komponierten leise-skurrilen Bilder stellen vordergründig anmutige Idyllen dar, lassen aber subtil Hintergründiges, manchmal Abgründiges aufscheinen - ein magischer Kontrast, der bei einer „naiven“ Malerin unfreiwillig, unbewusst wirken mag, der aber den besonderen Reiz und die Authentizität, die eigentliche künstlerische Qualität dieser meist kleinformatigen Malereien ausmachen.

Inspiration am frühen Morgen

Wohl fühlt sich Anna Grauwiller in ihren behaglichen vier Wänden, wo sie ihre drei Katzen füttert und sich ins konzentrierte Zeichnen und Malen vertieft. Ihre interessantesten Arbeiten sind wohl jene, die einen für sie wichtigen Aufbruch signalisieren: Weg von den Vorbildern traditioneller Bauernmalerei zur Darstellung subjektiver (und dadurch persönlich verbindlicher und lebendiger) Erfahrungen und Empfindungen. In diese Richtung weist beispielsweise ein Bild mit einem Trottinett fahrenden Mädchen. Das Trottinett hat Anna im Brockenhaus entdeckt und sofort ins Herz geschlossen, ebenso einen Spielzeughasen auf dem Flohmarkt, den sie ebenfalls gekauft und gemalt hat. Da werden sensibles Engagement, subtiles Aufspüren kindlichen Erlebens und die Hinwendung zur Poesie spürbar. Sie schätzt aber auch den Kreis vertrauter Bekannter, mit denen sie im letzten Sommer mehrere Wochen auf einer Alp verbracht hat, wo sie die ländliche Idylle genoss und die von ihr geliebten (und gemalten) Tiere in Ruhe betrachten konnte.

Ich muss nicht wohlhabend sein“

Dennoch lebt sie gerne in der Stadt. Den von ihren Eltern vorgesehenen Berufsweg hat sie nur widerwillig angefangen – und nicht beendet. Sie machte sich früh selbständig, auf der Suche nach dem ihr eigenen Weg: Vorerst arbeitete sie als Serviertochter, vorübergehend auch als Putzfrau in der Messe Basel (anlässlich der internationalen Kunstmesse...), und heute verdient sie ihr Geld als Reklame-Austrägerin. Frühmorgens, wenn andere noch schlafen, wandelt sie durch Quartiere, um Prospekte in die Briefkästen zu stecken. Diese Beschäftigung stiess bei Bekannten auf Unverständnis. Aber Anna Grauwiller sagt: „Diese Arbeit ist für mich ideal. Sie inspiriert mich: Jedes Haus, jedes Quartier hat seine besondere Stimmung. Eine andere Arbeit würde mir zuviel Zeit und meine Unabhängigkeit stehlen. Mit Reklameverteilen verdiene ich zwar nicht viel – aber ich muss ja auch nicht wohlhabend sein: Meine Wohnung kostet achtzig Franken Monatsmiete, und wenn ich jetzt noch ab und zu ein Bild verkaufe, kann ich gut leben.“

Im Rahmen der Altstadtsanierung dürfte Anna Grauwillers Wohnung in etwa zwei Jahren restauriert werden – und nachher für sie unerschwinglich sein. Eine Problematik, die an den Lebensnerv auch anderer, in billigen Altstadtwohnungen hausenden (Lebens-)Künstlern greift. Aber vielleicht kann die junge Malerin bis dann so viele ihrer Bilder verkaufen, dass sie sich  keine Sorgen machen muss?

Anmerkung: Dieser Text wurde 1980 in der „Basellandschaftlichen Zeitung“ im Rahmen der Serie „Baselbieter Künstler in ihren Ateliers“ veröffentlicht, die - so die Erklärung der Redaktion - „etwas zum breiteren Verständnis für die Arbeitsweise und Lebensart des künstlerisch empfindenden Menschen“ beitragen sollte.

Die am 6. Mai 1955 geborene Anna Grauwiller ist am 3. Februar 1999 – also noch nicht vierundvierzigjährig – durch Suizid aus dem Leben geschieden.