Intervention eines Erleuchteten

Von Felix Feigenwinter

 

Um zu seiner Psychotherapeutin zu gelangen, musste Sebastian den Fluss überqueren, der die Stadt in zwei Teile trennt. Die Psychiaterin, eine feine Person, mit der er kultivierte Gespräche führte, wohnte zwar im Stadtteil, wo auch Sebastian domiziliert war, doch hatte sie vor einiger Zeit die Praxis eines Kollegen übernommen, der Opfer eines Verkehrunfalls geworden war. Ein Auto hatte den Velo fahrenden Arzt, der zur Arbeit radelte, gerammt und auf die Strasse geschleudert. Dabei verletzte sich der Psychiater (der keinen Sturzhelm trug) so schwer am Kopf, dass er das Unglück nicht überlebte.

Während der Fahrt über die Brücke erlebte Sebastian Seltsames: Als er aus dem Tramfenster auf den breiten Fluss hinaussah, erspähte er in der Ferne des nordwestlichen Horizonts die strahlende Morgensonne. Das war sehr wundersam, denn es war wie gesagt Morgen,  viertel vor zehn, wie Sebastian mit Blick auf seine Armbanduhr feststellte, und er nahm selbstverständlich an, dass die Sonne auch heute im Osten aufgestiegen sei; warum also erschien sie, so früh am Tag, bereits in der entgegengesetzten Himmelsrichtung, zudem über dem Hochkamin der städtischen Kehrichtverbrennung, wohin sie sich noch nie verirrt hatte, übrigens auch abends nie, wenn sie sich, weiter im Westen, den Blicken zu entziehen begann? Irritiert wandte sich Sebastian von der rätselhaften Erscheinung  ab und spähte in die andere Richtung aus dem Nachbarfenster flussaufwärts, und siehe da: Auch hier stand der Feuerball am heiterblauen Himmel, am südöstlichen Horizont! Allmählich begriff Sebastian, dass er eine Täuschung erlebte: Die Morgensonne schien durchs südöstliche Fenster und spiegelte sich in der nordwestlichen Glasscheibe, die den Blick auf den Hochkamin der Kehrichtverbrennungsanstalt freigab, so dass der Fahrgast den Eindruck erhielt, er würde gleichzeitig von zwei Sonnen bestrahlt. Diese  Erklärung befriedigte Sebastian  intellektuell, beruhigte seine Vernunft, aber er stellte  fest, dass seine Gefühle von der Ernüchterung unberührt blieben: Das Erlebnis, von zwei Sonnen gleichzeitig beschienen worden zu sein, erfüllte ihn mit einer Wärme und Stärke, wie er sie in seinem bisherigen Leben  noch nie gespürt zu haben glaubte.

Als er zehn Minuten später vor dem Haus stand, wo die Psychotherapeutin praktizierte,   war er zuversichtlich, dass er sich dieser Dame, deren einfühlsame, warmherzige Art er so sehr schätzte und für die er dankbaren Respekt empfand,  sich heute besonders würdig erweisen könnte, denn er empfand zum erstenmal, seit er sie regelmässig besuchte,  jene Ausgeglichenheit und Ruhe, die er sich immer gewünscht hatte, um der liebevollen Zuwendung seiner Therapeutin zu entsprechen. Zwar hatte er sich stets bemüht, die Aerztin, die seine Seelenschmerzen so wohltuend zu lindern verstand durch ihr aufmerksames Zuhören, ja durch ihre blosse Anwesenheit, vor Einblicken in die düsteren Abgründe seiner Seele zu verschonen; stets war er  besorgt, den netten Gesprächsstil aufrechtzuerhalten, und er vermied es, die höflichen Umgangsformen und die angenehme Atmosphäre  durch finstere Andeutungen oder gar Ausbrüche der Verzweiflung zu zerstören. Heute nun, so schien ihm, würde ihm das leicht gelingen, denn er fühlte sich sonderbar erleuchtet.

Wie immer bei seinen Besuchen öffnete die Psychiaterin die Haustür, indem sie den automatischen Türöffner mit Druckknopf von der Praxis aus betätigte, nachdem Sebastian draussen geläutet hatte, und sie blieb vorerst auch unsichtbar, nachdem er ihr Reich im zweiten Stockwerk durch die offene Praxistür betreten hatte. Nun wusste er, dass er sich ins Wartezimmer zurückzuziehen hatte, da ein  anderer Patient die Therapeutin noch davon abhielt, sich dem Neuankömmling schon widmen zu können. Die Tür des Warteraums stand wie immer weit offen, was normalerweise keine Beeinträchtigung der Diskretion bedeutete, da sich zwischen diesem Zimmer und dem Therapieraum noch eine Bürokammer befand, wo die Aerztin ihre administrativen Arbeiten erledigte, und ausserdem die Toilette, die Sebastian bisher nie benützt hatte.

Heute aber drang eine laute, unheimlich zornige Männerstimme aus dem Sprechzimmer. Sebastian hörte, wie dieser erregte Kranke die Frau Doktor mit ungehemmter verbaler Gewalt attackierte, sie als "verdammte Hure" beschimpfte und ihr drohte, sie umzubringen. Warum, fragte sich Sebastian mit wachsendem Entsetzen, empfing sie solche aggressive Grobiane, da sie sich doch ohne Arztgehilfen, der den Leibwächter hätte spielen können, ungeschützt in ihrer Praxis aufhielt? Da sich der Unbekannte keineswegs zu beruhigen schien, sondern seine Drohungen mit anschwellendem Geschrei wiederholte, entschloss sich Sebastian, der Therapeutin zu Hilfe zu eilen. Mit einer Entschlossenheit, die ihn nachträglich selber verwunderte, stürmte er aus dem Wartezimmer zur Sprechzimmertür, hinter der die unerträglichen Verbalattacken des tobenden Patienten unvermindert anhielten, und er klopfte energisch an die Tür. Der Wüterich verstummte, und da Sebastian von der Aerztin keinen Laut vernahm, was ihn zu den schlimmsten Befürchtungen veranlasste, riss er die Türe auf. Die Aerztin sass hilflos in ihrem Therapeutensessel, derweil der Tobian, ein grobgliederiger, knochiger, bärtiger Riese, mitten im Raum stand, mit langen Armen herumfuchtelte und seine grossen, robusten Hände schliesslich zu einem Würgegriff formte, als ob er auf die Verängstigte sogleich wie ein wildes Tier  losspringen wolle. Sebstian stellte sich dazwischen. "Halt!" herrschte er den Unzurechnungsfähigen an, "schämen Sie sich nicht!? Diese Dame will Ihnen helfen, aber Sie beschimpfen und bedrohen sie! Pfui! Ihr Verhalten ist unwürdig und unehrenhaft! Als Herkules sind Sie verpflichtet, die Dame zu beschützen!"

Sebastians Intervention ermöglichte der Therapeutin, in den Nebenraum zu flüchten und Alarm zu schlagen. Nachdem zuerst zwei uniformierte Polizisten die Praxis betreten hatten und etwas später die Ambulanz eingetroffen war (im Gegensatz zum feingliederigen Sebastian, der sich als Bodyguard schlecht eignete, ebenfalls zwei kräftige Männer),  wurde der wilde Mann wegtransportiert. Im Bestreben, seiner Therapeutin nach der überstandenen Aufregung nun etwas Ruhe und Erholung  zu gönnen, und weil er glaubte, die Zeit seiner Therapiestunde sei inzwischen abgelaufen, verabschiedete sich Sebastian, ohne von seinem Erlebnis auf der Brücke mit den zwei Sonnen erzählt zu haben, was er sich eigentlich vorgenommen hatte.

Erst als er, ein heiteres Liedchen vor sich hinpfeifend, durch das Spätmorgenlicht zur Tramhaltestelle schlenderte, fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, sich einen Termin für die nächste Sprechstunde geben zu lassen. Und er fragte  sich, ob ihm die Aerztin für seinen heutigen Besuch  auch eine Rechnung schicken würde, obwohl sie mit ihm gar kein Therapiegespräch geführt hatte. Aber das würde sich klären. „Kommt Zeit, kommt Rat“, sagte er  vor sich hin, als er das Tram bestieg, momentan  zufrieden mit sich selbst und der Welt und glücklich darüber, dass er der verehrten Dame einen Dienst hatte erweisen dürfen.