Schwelle zum Paradies

Von Felix Feigenwinter

 

Er schien ihm zu schrill, ein wichtigtuerischer Egozentriker zu sein,  als dass er sich mit ihm hätte anfreunden wollen. Vogel hatte, wie Lichtenhahn wusste, Kunstgeschichte studiert, bevor er sein Millionenerbe angetreten war, das er nun schamlos verschwendete  - entgegen den Gewohnheiten der Bürger aus den alteingesessenen reichen Familien, die ihren Besitz mit äusserster Diskretion und puritanischer Sparsamkeit verwalteten. Vogel war ein Zugezogener, kein Bürger dieser Stadt, noch nicht; aber fast täglich erschien sein Name in der Klatschspalte einer Regionalzeitung; er war eine schillernde Figur, über die getuschelt wurde.

Vogel sei für ihn nur aus der Distanz geniessbar, hatte Lichtenhahn einem anderen  Gast im Restaurant Kunsthalle anvertraut, wo er manchmal  abends ein Weinchen genoss. Und lange Zeit schien es, als ob die Abneigung gegenseitig sei. Vogel, der fast täglich in der Kunsthalle auftauchte, um irgendwelche unternehmungslustige Leute zu treffen und zu einer Vernissage, einer Theaterpremiere, einem Konzert, einer Party oder weiss der Kuckuck wohin auszuschwärmen, schien dem Bibliothekar auszuweichen, wohl eher instinktiv als bewusst.  Als euphorischer Kommunikator schien er keine Hemmungen zu kennen. Doch Lichtenhahn hatte er, ganz zu dessen Zufriedenheit, bisher in Ruhe gelassen.

Das änderte sich an einem Sommerabend, als Lichtenhahn gleich nach der Arbeit die Kunsthalle aufsuchte, um dort zu Abend zu essen, weil er anschliessend in einem nahen Kino einen  Film ansehen wollte. Es war ein Montagabend, noch früh, im Restaurant sassen nur wenige Gäste, und als Lichtenhahn, der soeben den Tageslunch und ein Weinchen bestellt hatte, Gaudenz Vogel allein ins Lokal hereinstürmen sah, war ihm unbehaglich zumute. Es geschah, was er befürchtete: Der Neuankömmling steuerte, nachdem er vorerst offenbar ergebnislos die Tische nach möglichen Gesprächspartnern abgesucht hatte, unverhohlen auf Lichtenhahn zu, setzte sich, ohne sich zu erkundigen, ob ihm seine Anwesenheit angenehm sei, wie ein altvertrauter Kumpel zu ihm und rief dem Kellner, der dem Stammgast beflissen entgegeneilte, gut gelaunt seine Bestellung entgegen.

Vogel, der sich, wie der Bibliothekar wusste, auch als Kunstmäzen verstand, schwafelte allerlei, und er erzählte Lichtenhahn, der am Tageslunch  herumkaute, er habe gestern zwanzig Bilder von einem von ihm entdeckten Künstler namens Schmid gekauft.

"Von Schmidt-Rottluff?" fragte der immer noch aufs Essen konzentrierte Lichtenhahn scheinheilig, damit er auch etwas zur Unterhaltung beitragen konnte.

"Nein, natürlich nicht!" ereiferte sich Vogel, "doch nicht von diesem längst verblichenen deutschen Expressionisten! Nein, mein Schmid ist ein zeitgenössischer Schweizer Maler! Ein Junger! Ein Naturtalent, ein Genie!"

Lichtenhahn kannte einen Illustrator Schmid, der vor vielen Jahren die Informationstafeln im Zoologischen Garten mit Tierzeichnungen versah. Aber er nahm nicht an, dass sich Vogel Tierbilder von diesem Schmid angeeignet hatte und meinte deshalb ein wenig verärgert:

"Wie heisst er denn, Schmid... wie ist sein Vorname?"

"Isidor Schmid" erklärte Vogel salbungsvoll, "Isidor Schmid! Man muss sich diesen Namen merken. Ein ganz Junger noch, ein Maler mit Zukunft!"

Da Lichtenhahn nichts mehr sagte, sondern mit der Serviette über seinen Mund strich, da er das Essen beendet hatte und nach dem Kellner winkte, insistierte Vogel:

"Schmids Bilder sind in meiner Wohnung - die ist nur fünf Minuten von hier. Komm mit mir, ich zeig' sie dir. Du wirst staunen!"

Lichtenhahn ärgerte sich über Vogels Anmassung, ihn (ohne ihn genau zu kennen) selbstverständlich für einen Schmid-Liebhaber zu halten, auch über seine Unart, ihn ungefragt zu duzen (Lichtenhahn war entschlossen, Vogel weiterhin beharrlich zu siezen), aber ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass bis zur Kinovorstellung noch genügend Zeit blieb, um Vogels offenbar in der Nähe befindliche Wohnung aufzusuchen; vielleicht war es eine einzigartige Möglichkeit, die Höhle dieses legendären Salonlöwen zu besichtigen, wozu der Bibliothekar nun plötzlich doch Neugier verspürte.

So folgte er dem Kunstsammler etwas widerwillig, aber auch ein wenig abenteuerlich gestimmt, und geleitete ihn in dessen Heim, ein frisch restauriertes Jugendstilhaus, wo, wie er bald konstatierte, neben beachtlichen Originalgemälden vor allem aus dem Zwanzigsten Jahrhundert auch Lampen, Vasen und Möbelstücke verschiedener Stilrichtungen zu besichtigen waren. Zwei der frisch erworbenen Schmid-Bilder waren bereits aufgehängt, die restlichen standen in drei verschiedenen Räumen am Boden an die Wände gelehnt.

"Nun, was sagst du? Schau sie dir an! Habe ich übertrieben?" triumphierte Vogel.

Lichtenhahn mochte seine Begeisterung nicht ohne weiteres teilen und meinte spröde:

"Ich möchte sie mir sorgfältig anschauen, sie in Ruhe auf mich wirken lassen."

Vogel winkte ungeduldig ab und betrat eine Wendeltreppe; während er dort hochkletterte, rief er:

"Bediene dich! Meine Bar steht zu deiner Verfügung! Ich komme gleich wieder, ich möchte nur schnell eine Dusche nehmen. Ich fühle mich so abgekämpft, verschwitzt."  Er verschwand oben auf der Treppe; bald hörte Lichtenhahn ein Wasserrauschen, schnupperte exotische Düfte. Nach einer Weile erschien Vogel nackt, nur flüchtig mit einem Badetuch bedeckt, wieder auf der Wendeltreppe, huschte am Bibliothekar vorbei.

"Hast du die Bilder  betrachtet? Dein Urteil?" rief er aus dem Nebenraum, wo er sich offenbar neu einkleidete.

"Es sind kraftvolle, wilde Bilder", antwortete Lichtenhahn.

"Wilde Bilder!" wiederholte Vogel, "mit ungestümer Gestaltungskraft hingeworfen! Stell' dir vor, welches Potenzial in diesem jungen Maler steckt! Er wird noch Aufsehen erregen!"

Um sich dem Diktat seines Gastgebers ein wenig zu entziehen, verzog sich Lichtenhahn in eine Nische,  von wo aus er auf eine schmale, niedrige  Türe sah, wo ein kleines eingerahmtes Bild hing, eine Gruppierung von nackten Figuren - Menschchen, die sich zärtlich beizustehen schienen, eine seltsam berührende Darstellung, eine Kreidezeichnung, ausdrucksstark in ihrer magischen Wirkung, eigenwillig koloriert.  Links oben im Bild entzifferte Lichtenhahn eine Schrift, die das Werk betitelte: SCHWELLE ZUM PARADIES.

"Wo bist du denn?", hörte er Vogel nun fragen, der neu eingekleidet den Raum betrat, "ach hier - suchst du das Klo?"

"Nein, ich betrachte dieses eigenartige Bildchen hier", antwortete Lichtenhahn.

"Ach so, ja, das ist rätselhaft! Stell dir vor: Ich habe es auf dem Flohmarkt gekauft! Für wenig Geld.  Der Maler oder die Malerin ist unbekannt. SCHWELLE ZUM PARADIES! Geheimnisvoll. Für mich ein okkultes Kunstwerk...spirituell und erotisch zugleich. Scheinbar unspektakulär, aber es berührt mich tief. Und es ist Kunst!"

Lichtenhahn vertiefte sich weiter in das ihn fesselnde Bildchen, aber Vogel riss ihn aus der Andacht: Duftend und elegant trat er in einem lila und schwarzen Seidenkleid vor ihn und steckte sich einen grossen Goldring mit kunstvoller Fassung und einem funkelnden Rubin an den linken kleinen Finger; an seiner Brust hing ein kultisch wirkendes Amulett, eine archaische, nackte Frauenfigur.

"Und jetzt stürzen wir uns in die wilde Nacht!" verkündete er, "du bist mein Gast!"

Als Lichtenhahn einen prüfenden Blick auf seine Uhr warf, gewahrte er zerknirscht, dass er den Beginn der Kinovorstellung bereits verpasst hatte. Ein wenig resigniert und mit unsicheren, gemischten Gefühlen folgte er dem Millionär, gespannt, wohin ihn dieser nun führen werde.

In einem als distinguiert geltenden Dancing, wo sie noch vor Einbruch der Dunkelheit einkehrten, mokierte sich Vogel über die an der eleganten Bar sich mit Animiermädchen vergnügenden Herren von offensichtlich gehobenem sozialem Status. "Geiles Konsumpack!" zischte er zu Lichtenhahn, was diesen wunderte. Der Bibliothekar konnte sich nicht verkneifen, zu fragen, ob er sich nicht selber als "konsumgeil" einschätzen müsste, da er mit Teresa, einer brasilianischen Striptease-Tänzerin,  eine Flasche Champagner kippte. Vogel verneinte energisch.

"Dich halte ich ohnehin nicht für konsumgeil", erklärte er jovial. "Was mich betrifft, so spiele ich dieses Theater nur mit, um es ad absurdum zu führen. Ich inszeniere hier mein eigenes Stück. Ich suche die metaphysische Dimension! Komm, wechseln wir die Bühne..."

Auf dem Weg in einen anderen Stadtteil, wo sie bald ein verrauchtes Lokal betraten, in dem vorherrschend eher proletarisches Publikum zu verkehren schien, schwadronierte der sich zum Dandy entfaltende trunkene Kunsthistoriker über die Eigenheiten diverser Nachtlokale und ihrer Kundschaft.

"Was auffällt", analysierte er, "dass sich das Angebot käuflicher Erotik und Sexualität mittels Ware Frau durch alle soziale Schichten unserer Gesellschaft zieht. Ob im noblen Dancing, wo die Erfolgreichen und Reichen verkehren, die den Strip-tease-Tanz als künstlerische Inszenierung erleben, die auftretenden Tänzerinnen aber handkehrum als gewöhnliche Prostituierte beanspruchen, oder im vulgären Tingeltangel - es dreht sich doch immer um das Eine..."

Vogel beharrte darauf, anders zu sein als die anderen. Wie mit Teresa, der Brasilianerin im Nobeldancing, pflegte er auch mit dem thailändischen Mädchen, das ihn an der Bar in der verrauchten Striptease-Pinte mit ausschliesslich männlichen Gästen ansprach, zärtliche Kommunikation, was wiederum mit erheblichem Champagnerkonsum verbunden war. Vogel zelebrierte, nicht ohne Eitelkeit, einen Kult des Respekts, was in dieser Umgebung irritierte, wo ordinäre Sprüche und Gesten an der Tages- beziehungsweise Nachtordnung waren. Die hier arbeitenden Animiermädchen hatten sich offenbar längst damit abgefunden, von ihren "Mietern" mit plumpen Beleidigungen verhöhnt und grob betatscht zu werden, so dass eine sich kultivierter gebärdende Figur besondere Aufmerksamkeit auf sich zog. Gaudenz Vogel  schien diese Rolle zu geniessen.

"Sie schöpfen Ihre Privilegien aus, Herr Vogel. Sie befriedigen Ihre Bedürfnisse, indem Sie schöne, arme Frauen kaufen" stänkerte Lichtenhahn. "Würden diese jungen Frauen auf Sie eingehen, wenn Sie ein Mann ohne Geld wären? Doch wohl kaum!"

"Jetzt fehlt nur noch, dass du feststellst, ich sei ein skrupelloses kapitalistisches Schwein!" erwiderte Vogel. Damit schien dieses Thema für ihn erledigt.

In der Spelunke, wohin sie nun weiter gingen, warteten afrikanische Frauen, die ihr Kommen mit lebhaftem Palaver kommentierten. Wie die Angehörigen einer Sippe von ihren Schwestern, Tanten und Müttern wurden die beiden Ankömmlinge unter Gezeter und Gelächter  mit Küssen und Umarmungen begrüsst. Vogel spendierte für alle Champagner, es wurde ein warmes Essen aufgetischt, an dessen Verzehr ausser Lichtenhahn, der keinen Hunger verspürte, sich alle beteiligten, es wurde wild getanzt (auch Lichtenhahn, bisher eher passiv, mischte sich unter die Tanzenden), und schliesslich hing Vogel an der entblössten Brust einer schwarzen Supermama; er war zum Säugling regrediert.

Der nächste Abstecher galt einem Lokal mit durchmischtem Publikum - man sah auch Frauen unter den Gästen - , wo Vogel von Damen aus der Karibik umschwärmt wurde; auch ihnen schien er als besonderer Gast bereits vertraut zu sein. "Der Priester, der Priester!" hatte eines der Mädchen aufgeregt gerufen, und es wurde Lichtenhahn schnell klar, dass Vogel hier offenbar als selbsternannter Priester auftrat, der die Frauen feierlich segnete und eine kultische Schau abzog, an die er selbst zu glauben schien. Wieder strömte Champagner, und Vogel trank ihn feierlich wie aus einem Messkelch.

Als Lichtenhahn merkte, dass es den Millionär weitertrieb in die nächste Spelunke, dass er nicht zur Ruhe kam und wohl bis zum Morgengrauen ruhelos herumziehen würde, bis er vielleicht in einer Umarmung Befriedigung finden würde, beschloss er, sich zu verabschieden. Mitternacht war längst vorbei, Lichtenhahn hatte genug gesehen, er fühlte sich dösig und war nicht länger bereit, den dekadenten Geniesser länger zu begleiten bei dessen wahnhaften Herumtreiben.

Er verabschiedete sich gähnend, bedankte sich für die spendierten Getränke und die gebotenen Erlebnisse, und er schnappte sich ein Taxi, mit dem er zu seiner Wohnung fuhr.

Daheim, auf dem Bett liegend, vor dem Einschlummern, versuchte er kopfschüttelnd auszurechnen, wie viel Geld Vogel in den wenigen Stunden, während welchen sie zusammen waren, ausgegeben hatte und wie viel er diese Nacht noch verschleudern würde. Vogel war ein Alkoholiker, ein Suchtkranker, und falls er in diesem Stil weiterlebte, würde sein Ende bitter sein; sein baldiger gesundheitlicher Ruin würde nicht aufzuhalten sein, überlegte Lukas Lichtenhahn.

Es erstaunte ihn, dass ihn der verschwenderische Irre derart hatte manipulieren können, "denn eigentlich bin ich doch nicht labil", sagte er laut vor sich hin. Nun würde er, so schätzte er, einen ganzen Tag und eine Nacht benötigen, um sich von dieser Ausschweifung erholen zu können. Er war gestern Abend wohl einfach unachtsam gewesen; ein zweites Mal würde ihn Vogel nicht mehr einspannen können, da war er sich sicher. Mit dieser Gewissheit versank Lichtenhahn in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

                                                            *

Wenige Tage später, es war Samstag, spazierte Lichtenhahn dem Rhein entlang, aufgewühlt nach der Lektüre eines Nekrologs in der Zeitung. Danach sei der Kunsthistoriker und Förderer begabter Nachwuchskünstler Gaudenz Vogel überraschend für seine  Familie und den weiten Freundeskreis  seinem überschäumend aktiven Leben jäh entrissen worden. Sein Tod bedeute im gesellschaftlichen und kulturellen Leben der Stadt einen herben Verlust.

Noch gestern Abend war Lichtenhahn unter einem Gewölbe finsterer Gewitterwolken den Rhein hinuntergeschwommen. Am Ufer sammelten sich Einheimische und Durchreisende, die ein Stadtverein mit Getränken, gebratenen Fischen und volkstümlicher Musik zum Verweilen lockte. Diese sich auf einer kurzen Strecke des Rheinwegs Scharenden nahm er aus dem Fluss heraus kaum mehr wahr, ebenso wenig die Gebäudekulissen der Stadt und die Leute auf den Brücken, die ihm schattenhaft erschienen. In den unter dem wolkengeschwängerten Abendhimmel eingeschwärzten Fluten fühlte er sich im archaischen Element; das emsige, geordnete Menschentreiben am Rand des Wassers war schon weit weg.

Heute gleiten die Wellen noch lebhafter als gestern Abend. Früher dachte Lichtenhahn, wegen der Biegung, die er beim Durchqueren der Stadt bildet, würde der Strom in seiner Wildheit gehemmt. Dieser Eindruck hat sich längst verflüchtigt. Seit sich Lichtenhahn selber in die Fluten stürzt, weiss er, dass die Stadt zwar fast alles Ungestüme, das sich in sie verirrt, zu bändigen, ja nicht selten zu vernichten oder mindestens auszuscheiden versteht - dem Strom dagegen ist sie nicht wirklich gewachsen. Sie ist ja auch viel jünger als er, und er würde sie vielleicht überleben. Manchmal denkt Lichtenhahn, er habe sie bereits überlebt , so sehr erscheint ihm die Stadt zuweilen museal, ausgetrocknet, ein Mausoleum.

Das nächtliche Gewitter hat die Hitze vertrieben; erst am späten Morgen lichtete sich die Wolkendecke. Jetzt ist es noch seltsam kühl für einen Sommertag. Lichtenhahn sinniert über die Begegnung von gestern Abend an der Tramstation,  wo er nach seinem Rheinschwimmen gewartet hatte, um heimzufahren. Eine dunkelhäutige Frau ging in einem langen weissen Gewand, mit einer Perücke auf dem Kopf, durch die dicht bevölkerte Abendstrasse. An der Tramhaltestelle blieb sie stehen, beglotzt von anderen Wartenden, bis die Gaffer wegen des hereinbrechenden Gewitters auseinanderstoben. Lichtenhahn erkannte Teresa, die Brasilianerin, die ihm Gaudenz Vogel im Nachtlokal vorgestellt hatte. Gestern Abend hatte er von Vogels Tod noch nichts gewusst; er wagte die Frau nicht anzusprechen.

Aber nun ist Samstagnachmittag; Lichtenhahn hat aus der Zeitung  von Vogels Tod erfahren. Sein Blick  fällt auf eine Figur, die ihn interessiert, weil sie sich von den anderen Menschen durch eine natürliche Grazie abhebt, die hier exotisch wirkt. Die junge Dame sitzt  unten an der Uferböschung, offensichtlich allein zwischen anderen jungen Leuten:  Teresa, die Brasilianerin, diesmal ohne Perücke, ungeschminkt, in Freizeitbekleidung... Gestern noch sah er sie an der Tramhaltestelle, und am letzten Montagabend hatte er mit ihr und dem inzwischen verstorbenen Paradies-Vogel mit Champagner angestossen. Minuten lang starrt Lichtenhahn auf diese Gestalt, auf eine lichte dunkle Göttin, deren Nacktfoto hinter einer Glasscheibe neben dem Eingang zum Nachtlokal Kundschaft anlockt.

Nach einer Weile gebannter Betrachtung klettert  Lichtenhahn hinunter zum Fährsteg, besteigt die Fähre und schaukelt ungestüm im reissenden Wasserstrom bei hohem Wellengang auf die andere Seite des Rheins, wo sich das mittelalterliche Münster mit seinen zwei  zierlichen gotischen  Turmspitzen erhebt, die über dem glitzernden Chorgiebel im Gegenlicht der aus einem Wolkenloch strahlenden Sonne wie Scherenschnitte in den Himmel ragen. Den Münsterberg hinauf keucht er über die  Steintreppe. Auf der Pfalz eilt er in brennendem Verlangen zum Fernsichtautomaten, wo er ein Geldstück in den Schlitz wirft, auf den Münzstift drückt und durchs Fernrohr das andere Ufer absucht.

Da sieht er sie wieder, aus der Ferne vergrössert, scheinbar unmittelbar vor ihm sitzend, eine graziöse Erscheinung - eine Sonnenpflanze.  Lichtenhahn beobachtet, wie zwei badehosenbekleidete Typen, kränkelnde Bleichgesichter, an der exotischen Schönheit vorbeischleichen, mit Faxen Aufmerksamkeit erheischen. Sie scheint sie nicht zu beachten, sieht an ihnen vorbei aufs Wasser, blickt hinauf zum Münsterhügel, zu Lichtenhahn. Ob sie ihn sehen kann? Kaum. Sehen vielleicht, doch, das ist möglich. Aber erkennen? Nein!

Das Bild verschwindet. Lichtenhahn sucht vergeblich nach einem Zweifrankenstück. Die Zeit ist abgelaufen.

Als er sich umblickt, sieht er, dass er, am Fernrohr stehend, von einer japanischen Touristengruppe als Fotosujet benützt wird; eine Reihe von Fotoapparaten ist auf ihn gerichtet.  Lichtenhahn winkt verlegen ab, was die Touristen für ein Grüssen zu halten scheinen, wie er aus deren  Verbeugungen schliesst. Er entzieht sich der neugierigen Schar, überquert im Schatten der Kastanienbäume die Pfalz Richtung Münsterplatz, will am ältesten, romanischen Teil der Kathedrale  vorbeigehen, aber bleibt vor der Galluspforte stehen, wo  Sandsteinfiguren  über der Pforte unter dem grossen Glücksrad seit Jahrhunderten den sterblichen Blicken standhalten. Verblüfft stellt er fest:  diese Figuren ähneln den nackten Menschchen auf dem geheimnisvollen kleinen Gemälde in Vogels Wohnung: SCHWELLE ZUM PARADIES! Irritiert kehrt er zur Pfalz zurück, sucht den Kreuzgang auf, der für ihn seit seiner Kindheit ein Refugium bedeutet. Hierhin hatten ihn seine Eltern immer wieder geführt, ein kultischer Ausflugsort, Ziel mancher Sonntagsspaziergänge auf den Münsterhügel: Die hoch an der Wand thronende Ahnentafel mit den Namen seiner verstorbenen Ahnen, und darüber das Sippenwappen: ein Hahn, der zwei Fackeln im Schnabel trägt. Wie hatte er sich in all den Jahren an dieses Bild gewöhnt! Aber heute erscheint ihm das Signet zum erstenmal trügerisch, fast lächerlich in seiner eitlen Symbolik; den Hahn hält er für eine falsche Interpretation des Familiennamens, der früher  Liechtenhayn hiess -  mit einem Gockel hat das doch nichts zu tun.

Lichtenhahn drängt es zurück zur Galluspforte. Nun steht er wieder vor der verschlossenen Doppeltüre, liest die Verheissung: ICH BIN DIE THUER SO JEMAND DURCH MICH EINGEHET DER WIRD SELIG WERDEN, und wieder staunt er über die Aehnlichkeit der Skulpturen aus dem tiefen Mittelalter über dem Torbogen, der sich enthüllenden oder schon nackten Auferstehenden, die auf zwei Mäuerchen hocken, flankiert von Engeln des Jüngsten Gerichts,  mit den  Figuren auf dem  Bildchen SCHWELLE ZUM PARADIES. Wie gerne hätte er diese von Vogel als "okkult" bezeichnete Kreidezeichnung noch einmal im Original genau betrachtet - und mit den Darstellungen hier verglichen.

Aber das ist nun  nicht mehr möglich; das Haus des Toten bleibt ihm verschlossen.

Das Bild verschwimmt in der Erinnerung.


Diese Erzählung aus dem Jahr 2007 ist eine Kombination der Geschichten "Eine wilde Nacht" (2006) und "Die dunkle Göttin" (erstmals veröffentlicht im "Basler Stadtbuch 1984", Ausgabe 1985).