Der Baggerführer

Von Felix Feigenwinter

Mit seiner Höllenmaschine verwandelte er die Schrebergärten hinter dem Verwaltungsgebäude innert weniger Tage in abgrundtiefe Erdlöcher. Einmal, es war ein kühler Herbsttag, fragte er zum  Fenster hinein, ob sie ihm einen Kaffee machen könne. Lachend erwiderte sie, ausnahmsweise, ja, aber sie sei nicht seine Serviertochter.

Seither kam Max jeden Morgen. Er plauderte mit ihr, und Frau Studer reichte ihm in einer Plastiktasse dampfenden Kaffee durch den Fensterrahmen. Sie bewunderte sein ungestümes und doch so zielstrebiges Wirken, staunte, mit welcher Fertigkeit er immer tiefere Löcher grub (insgeheim verglich sie ihn mit einem Maulwurf), mit welch' atemberaubender Schnelligkeit er sein Raupenfahrzeug knapp an den Abhängen vorbei zu den Lastwagen steuerte und seine Fracht mit subtilen Hebelbewegungen auf die Ladepritschen kippte, die Erde mit der Riesenschaufel noch zusätzlich tätschelte, bevor die schweren Autos davonfuhren. Max schien der König der Baustelle zu sein, aber er erinnerte sie auch an ein Kind, das im Sandkasten spielte. An späten Nachmittagen, nachdem er dem Bagger entstiegen war, betrachtete er händereibend und vergnügt vor sich hinpfeifend sein Tagewerk. Er öffnete eine neue Flasche Bier, einen Schoppen, den er auch während der Arbeit oft in der linken Hand hielt und an dem er von Zeit zu Zeit genüsslich nuckelte.

Eines Abends, es war tiefer November und draussen kalt und bereits dunkel, klopfte Max ans Bürofenster. Frau Studer öffnete es, und er fragte, ob sie am nächsten Wochenende schon etwas vorhabe. Nein, log sie; sie hatte beabsichtigt, einen Teppich zu kaufen und Vorhänge zu nähen. Am Freitagnachmittag nahm sie frei, und sie fuhr mit Max in eine für sie fremde Stadt. Hinter einer fahlen Nebeldecke hing die Sonne tief und bleich am blassgrauen Himmel; es schien, als ob sie erfroren wäre: Nicht einen Schimmer von Gelb oder Rot schien sie auszustrahlen. "Bleich wie der Mond", meinte Max, als er Frau Studers Staunen bemerkte.

Mit geheimnisvollem Lächeln führte Max Frau Studer in eine von gigantischen Scheinwerfern beleuchtete Riesenhalle, wo auf einem Holzoval buntgekleidete junge Männer auf Zweirädern um die Wette flitzten. Frau Studer versuchte, sich die Gesichter der Rennfahrer zu merken, aber mit den Sturzhelmen glichen sie einander. Max war besorgt, ihr die Regeln des Rennens zu erklären und den einen oder anderen der Akteure nahezubringen, und schliesslich erzählte er, einst habe er selber Velorennen gefahren, auch Siege gefeiert. Er bemühte sich um den Nachschub von Essen und Getränken, was Frau Studer zur Bemerkung veranlasste: "Du verwöhnst mich", aber Max witzelte: "Ich versuche, dir zu imponieren", und er stellte ihr ehemalige Radsportkameraden vor.

Am nächsten Montagmorgen hatte der Reif die Erde überzogen, und dichter Nebel verschleierte die Baustelle. Wegen der schwierigen Sicht wurde mit Lichtern gearbeitet. Frau Studer sass am Computertisch und starrte wie ein Fisch im Aquarium durchs Fensterglas. Der Bagger war in die Tiefe gekippt. Als man den schwer verletzten Max in den Krankenwagen trug, umklammerte seine linke Hand immer noch den Bierschoppen. In der Mittagspause eilte Frau Studer ins Kantonsspital. Max war nicht mehr zu sprechen. Kurz nach der Einlieferung in die Notfallstation sei er gestorben, bedauerte der diensttuende Arzt; niemand habe es verhindern können.

Die von Max gegrabenen Erdlöcher sind inzwischen mit drei grossen Mehrfamilienhäusern ausgefüllt worden. Zwischen den Blöcken wurde Rasen angesät; dort hat man Spielplätze eingerichtet. In den Sandkästen tummeln sich  nun Kinder, die Löcher graben, Plastikeimer füllen und kunstvolle Sandhaufen mit farbigen kleinen Schaufeln sorgsam tätscheln. Darumherum kreisen kleine Rennfahrer auf ihren Drei- und Zweirädern.

Frau Studer betrachtet die Spiele durchs Bürofenster. Im glitzernden Schein der Nachmittagssonne versickert die Wirklichkeit.

 

Diese Geschichte wurde 1986  geschrieben.