Tellenbachs Sturz

Von Felix Feigenwinter

 

Die lähmende Hitze des samstäglichen Julinachmittags mag dazu beigetragen haben, dass der schreckliche, ja skandalöse Vorfall nur wenige Hausbesucher und Nachbarn entsetzte. Auf dem Balkon des zweiten Stockwerks döste seit gut zwei Stunden der stellvertretende Abteilungsleiter des Erbschaftsamtes Sepp Winkelried. Seine Gattin, eine gebürtige Ausländerin, nannte ihn "José", manchmal spasseshalber auch "Giuseppe"; seine betagte Mutter redete immer vom "Seppli", wenn sie ihn meinte, Parteifreunde sagten "Sepp" zu ihn, Arbeitskollegen "Joe". Nur der alte Tellenbach hatte ihn unbeirrt mit "Josef" angesprochen. Im Telefonbuch war er jahrelang unter "Winkelried Josef" zu finden gewesen, seit kurzem war die Telefonnummer hinter "Winkelried Sepp" eingetragen, auf Anregung eines Parteifreundes übrigens, der als Werbefachmann wirkte und den kräftigeren und volkstümlicheren Namen Sepp dem ernsthafteren, doch wie er fand, faderen "Josef" vorzog.

Sepp, José, Giuseppe, Seppli, Joe und Josef Winkelried lag auf einer zusamenklappbaren Liege, versteckt hinter farbigen Vorhängen, welche die Sicht vom Garten und aus den Fenstern der umliegenden Häuser angenehm behinderten, wenn nicht gerade ein Windstoss die von Frau Winkelried phantasievoll aufgehängten Geländerverkleidungen fast unanständig aufblähte.

Winkelried fühlte sich geborgen unter dem Sonnenschirm und hinter den bunten Tüchern, die ihm wie wunderbare Frauenröcke vorkamen, unter denen er sich versteckt hielt, und er hoffte, an diesem geruhsamen Nachmittag seine Magenschmerzen dank Entspannung, kühlem Kamillentee und Vanillejoghurt auskurieren zu können, denn es standen strube Zeiten bevor. Die Herausforderungen im Erbschaftsamt, wo er hauptberuflich tätig war, verlangten jeden Werktag von morgens früh bis abends spät seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit. Begünstigt durch die bevorstehende Frühpensionierung des gegenwärtigen Amtsinhabers schien seine Beförderung zum Abteilungsleiter nicht mehr aufzuhalten zu sein. Dazu hatte er sich auf der Liste seiner Partei für die kantonalen Parlamentswahlen aufstellen lassen, und er hatte sogar Chancen, gewählt zu werden, so dass er sich im Wahlkampf entsprechend engagieren müsste, was schon nach den Sommerferien beginnen und bis in den Spätherbst hinein dauern würde, mit wochenlangem Einsatz in der Freizeit, mit Auftritten an abendlichen Wahlveranstaltungen und an freien Samstagen hinter Parteiständen auf der Strasse.

Irgendwann musste er eingeschlummert und irgendwann wieder aufgewacht sein. Ein sonderbarer Traum beunruhigte ihn. Wäre nicht Wilma, seine Frau, auf dem Balkon erschienen, um ihr Bikini und ein Frottiertuch an den Wäscheständer zu hängen, wäre es ihm schwergefallen, sich zu orientieren, so unauffällig schienen an diesem fiebrigen Sommertag Traum und Wirklichkeit ineinander überzugehen. Winkelried spürte das Bedürfnis, den Traum mitzuteilen, und er bat Wilma, sich zu ihm zu setzen, damit er ihn erzählen könne.

"Mein lieber José", sagte Wilma, nachdem sie seinen unglaublichen Schilderungen gelauscht hatte, "das ist aber schlimm! Siehst du in mir wirklich eine solch böse Hexe?!" Wilma sprach seinen Namen immer französisch aus, wenn sie ihn "José" nannte, elegant und sanft mit dem weichen "Sch" zu Beginn des Wortes (nicht spanisch mit dem strengen "Ch"). Sepp alias José Winkelried wiegte sich in Wilmas verbalem Charme, der ihm ungeahnte Horizonte eröffnet hatte, weil er seine anerzogene, vielleicht auch angeborene Schwerfälligkeit im Umgang mit Gedanken, Gegenständen und Menschen auflockerte, ihn befähigte, das Leben etwas leichter, spielerischer zu bewältigen. Sicher hatte Wilma damit, ohne es vielleicht zu wissen, den Weg zu seiner beruflichen und politischen Laufbahn geebnet.

Schon bereute José, seine Gattin mit der Erzählung des beklemmenden Traums irritiert zu haben. Er versuchte, ihn reflektierend zu relativieren, ihn nachträglich eher komisch als dämonisch zu interpretieren. Aber ein ungehöriges Rumpeln, vermischt mit einem kurzen, unterdrückten menschlichen Schrei schreckte das Ehepaar aus dem Gespräch. Fast gleichzeitig durchdrang das Geräusch eines dumpfen Aufpralls den schläfrigen Nachmittag.

Während José etwas verdutzt auf seiner Liege ausgestreckt blieb, sprang Wilma sofort auf. Sie beugte sich über das Balkongeländer und erblickte den nur mit einem Hemd bekleideten Wilhelm Tellenbach, den Hausbesitzer aus der Dachwohnung. Er lag gekrümmt auf den einst von ihm selbst gelegten Steinplatten im Garten, offensichtlich leblos. Mauerstücke und Geländerteile, die offenbar von der Dachterrasse herausgebrochen waren, umlagerten die auch im Tod noch markante Gestalt, teils auf den Platten, teils im Rasen verstreut. Die Rosenstauden entlang dem Gartenweg schienen vom Toten, als er noch lebte, genau für diese Szenerie gepflanzt und gehegt worden zu sein (Wilma verscheuchte den unheimlichen Gedanken, der sie angesichts der makaberen Idylle aus der Balkonperspektive beschlich), aber die drei Birken und der Ahorn, dessen Krone Tellenbachs Haus seit Jahren bei weitem überragte, schienen vom Unglück nicht betroffen, obwohl die Bäume, so schien es Wilma, auch gut in einen Friedhof gepasst hätten. Ihr kleiner Sohn hatte den Sturz glücklicherweise nicht mitbekommen; Frau Braun hatte das Kind zusammen mit ihrer kleinen Tochter ins Schwimmbad mitgenommen. Aber jetzt sah Wilma sie zurückkehren: sie näherten sich dem Haus von der Strasse her; das muntere Kindergeplauder war schon deutlich zu hören. Normalerweise hätte Wilma gerufen und gewinkt, aber nun liess sie es bleiben, um die Aufmerksamkeit der Kinder nicht auf den Toten zu lenken. Der Anblick des verunfallten Alten im Garten, unweit vom Sandkasten, wo die Kinder oft spielten, hätte ihren Sohn fürs Leben traumatisieren können, stellte sie sich vor, und sie hetzte durch die Wohnung, durchs Treppenhaus, hinunter vors Haus, um die ahnungslosen Heimkehrenden abzufangen, sie auf den Schrecken vorzubereiten.

Auf dem Balkon hatte sich inzwischen auch Sepp Winkelried erhoben. Er fühlte sich schwindlig und stützte sich aufs Balkongeländer. Ungläubig starrte er in den Garten, unschlüssig, ob er seine Wahrnehmung für Wirklichkeit halten sollte.

Allmählich begriff er, dass er einen wirklichen Toten betrachtete.

Angesichts des aus dem Dachstock Gestürzten beschlichen ihn zwiespältige Gefühle. Da lag der Hausbesitzer und Wohnungsvermieter, aber er war gleichzeitig der erste -  geschiedene - Ehemann seiner Frau Wilma (die Ehe dauerte etwa vier Wochen, dann flüchtete Wilma in seine, Sepp Winkelrieds, Arme, doch der alte Tellenbach lockte das Paar zurück in sein Haus...); Tellenbach war Trauzeuge und Ehrengast an ihrer Hochzeit und, das Bedrückendste von allem, der leibliche Vater seines, Josef Winkelrieds, Sohnes!

Winkelried versuchte Tellenbachs Schatten aufzuhellen. Ueberrascht fühlte er Heiterkeit  in sich aufsteigen beim Gedanken, dass der in seiner Jugend wegen Totschlags verurteilte Schwerenöter nun selbst durch einen gewaltsamen Tod gefällt worden war.

Die Ironie des Schicksals empfand Winkelried als wohltuend, sie entprach seiner Vorstellung von Logik, von Gerechtigkeit.

                                                           *

Niemand im Haus schien daran zu zweifeln, dass Tellenbach Opfer eines (wie Josef Winkelried es ausdrückte: für ihn typischen) Unfalls gewesen sei. Nur der käsige alte Mann, der stundenlang im Garten und überall im Haus herumschnüffelte, schien dieser Erklärung zu misstrauen. Unterstützt von einem technischen Fahndungsteam inspizierte er den hintersten Winkel der Liegenschaft, auch den Laden im Parterre, wo früher der Bestattungsunternehmer Tellenbach seine Särge ausstellte und heute als Antiquitäten- und Kuriositätenhändler Samoware, Barockengel und Wilhelm-Tell-Denkmäler en miniature anbot. Und er plauderte mit allen Hausbewohnern, sogar mit den beiden kleinen Kindern, auch  mit einigen Nachbarn.

Der für einen Kriminalkommissar ziemlich abgetakelt, ja wackelig wirkende Kettenraucher, der sich übrigens als "Detektiv Borer" vorstellte und allen, mit denen er sprach, einen Ausweis mit Foto hinstreckte, interessierte sich unter anderem für das frühere Leben des Toten, und dieses war nun weiss Gott ungewöhnlich genug. In seinen Notizblock kritzelte der alte Fahnder Beobachtungen und Recherchen mit auffallend zittriger, nervöser Schrift, die vermutlich nur er selber entziffern konnte. Der Studie über Tellenbach schien der Detektiv weit mehr Gewicht beizumessen als der unmittelbaren Suche nach einem mutmasslichen Mörder, die Borers hartnäckige Ermittlungen doch eigentlich erst hätten sinnvoll erscheinen lassen, wie Winkelried kopfschüttelnd kritisierte. Aber Borer, ein ungemütlich undurchsichtiger Mensch, wie Wilma und Josef Winkelried gleichermassen fanden, deutete an, dass auch die Möglichkeit eines Selbstmordes sorgfältig geprüft werden müsse; bei einem Mann, der früher einen Menschen getötet habe, was aktenkundig sei, sei ein aussergewöhnliches Aggressionspotential anzunehmen. Winkelried misstraute auch dieser Aeusserung; er witterte irgendwelche psychologische Ablenkungsmanöver des Berufsschnüfflers, traute ihm perfide taktische Spielchen zu, die er in diesem Fall für ärgerlich, weil unnötig hielt, denn für ihn war klar: Tellenbach war verunfallt, durch einen unglücklichen Einbruch des morschen Gemäuers und Terrassengeländers zu Tode gestürzt. Da gab es keinen Täter zu suchen - der einzige Mörder im Haus war tot...

Josef Winkelried nervte die ganze Angelegenheit, dieser Aufstand, als er sich zu erholen hoffte, und die seither nicht ruhenden Untersuchungen und Befragungen durch den gelbfingrigen Fahnder, der im Haus Tabakgestank und Zigarettenstummel hinterliess wie ein Hund seine Duftmarken. All das schädige sein Image, befürchtete Winkelried, auf das er nun doch besonders angewiesen war vor den Parlamentswahlen und auch im Hinblick auf die erhoffte Beförderung zum Abteilungsleiter, ein Meilenstein in seiner beruflichen Laufbahn; zudem beeinträchtigte es seine Gesundheit (die Magenschmerzen hatten wieder zugenommen).

                                                                  *

Und Borer telefonierte frühmorgens sogar in Winkelrieds Büro. Er möchte ihn nochmals sprechen, sagte er, eine halbe Stunde genüge; er möge ihm bitte sagen, um welche Zeit es ihm möglich sei. Winkelried wurde wütend; er habe weiss Gott keine überflüssige Zeit, schimpfte er, aber dann nahm er sich zusammen (die Sekretärin hörte zu, schiesslich sollte er Abteilungsleiter werden!), und er vereinbarte in sachlichem Ton ein Rendez-vous über Mittag.

Der aufsässige Schnüffler erschien pünktlich, er zog ein Tonbandgerät aus seinem Ledertäschchen und bat Winkelried, ihm den Traum, den er laut Befragung vom 18. Juli am Nachmittag kurz vor Tellenbachs Sturz auf dem Balkon seiner Frau erzählt habe, was Winkelried ihm im Eifer der ersten Aufregung auch noch mitgeteilt hatte, auf das Tonband zu sprechen.

Winkelried war perplex. "Meinen Sie nicht, das geht doch etwas weit?" fragte er den ihn undurchsichtig musternden Kriminalbeamten, "ein Traum ist etwas sehr Persönliches, sehr Intimes, und was soll ein Traum in den Akten einer kriminalistischen Untersuchung? Sie sind doch nicht Angestellter eines psychologischen oder psychiatrischen Instituts, oder? Die befassen sich mit Träumen, mit dem Unterbewussten..."

"Erzählen Sie nur ruhig, wir haben Schweigepflicht. Nichts dringt an die Öffentlichkeit!" behauptete Borer.

"Gerichtsverhandlungen sind bekanntlich öffentlich", widersprach Winkelried. "Falls es zu einem Mordprozess käme, würden solche Informationen doch auch publiziert! Aber da ich fest davon überzeugt bin, dass Tellenbach verunglückt ist, kann ich ja ruhig loslegen."

Winkelrieds Tonfall war jetzt spöttisch geworden. Die Sache begann ihm nun doch langsam Spass zu machen.

"Erzählen Sie", wiederholte Borer beharrlich.

Und Winkelried legte los.

                                                                *

"Entschuldigung" meldete sich Borer, "erzählen Sie nun aus Ihrem Traum oder aus der Wirklichkeit?"

"Aus meinem Traum, wie Sie´s ja wollen!"

"Gut", sagte Borer, "ich meine nur, weil Sie den Traum wie eine sorgfältig aufgebaute Geschichte erzählen. Ich kann mich nicht erinnern, je einen Traum gehabt zu haben, wo solche ausführlichen Dialoge vorkamen. Träume setzen sich  doch meistens aus Bildern zusammen."

"Ich erzähle Ihnen meinen Traum in Form einer Geschichte, einverstanden?"

"Gut, gut", meinte Borer und paffte Winkelried den Rauch seiner Zigarette ins Gesicht, "wichtig ist der Inhalt, nicht die Form. Wer aber ist José, sollen Sie das sein? Ich dachte, Sie heissen Sepp, oder Josef?"

"Meine Frau nennt mich José", erklärte Winkelried.

"Und Elsbeth, eine Traumfigur oder eine wirklich existierende Person?"

"Beides", sagte Winkelried, "soll ich nun weitererzählen?"

"Ja", sagte Borer, "mit Willi ist, nehme ich an, Wilhelm Tellenbach gemeint."

"Wo bin ich stehengeblieben?"

                                                                         *

"Entschuldigen Sie", unterbrach Borer erneut, nun ziemlich ungeduldig, "könnten Sie das Ganze nicht etwas straffen, das Wesentliche schildern? Sonst sitzen wir den ganzen Nachmittag hier, vielleicht noch abends! Und", argwöhnte er ärgerlich, "ist es überhaupt möglich, sich an derart lange Dialoge aus einem Traum so genau zu erinnern?"

"Wie Sie wollen", meinte Winkelried, inzwischen glänzend gelaunt und hochinspiriert; es freute ihn offensichtlich, dem Kriminalisten als Märchenonkel zur Verfügung zu stehen, und je ungehaltener Borer wurde, desto genüsslicher schien Winkelried mit seiner Erzählung auszuholen.

Wieder störte Borer. "Kürzer", seufzte er, "bitte kürzer! Straffer! Das Wesentliche!"

"Es kommt gleich", versprach Winkelried, "es wird Sie sehr interessieren, denn nun wird`s kriminalistisch!"

Borer, hin- und hergerissen zwischen seiner Neugier und dem unbehaglichen Eindruck, Winkelried würde ihn auf den Arm nehmen, nickte resigniert.

(Borer setzte zur Frage an, wer Elsbeth genau sei, aber er unterdrückte sie, wohl, um Winkelried nicht noch mehr zu Ausschweifungen zu ermutigen.)

                                                                   *

"Stopp!" befahl Borer, "es genügt!" Er schaltete das Tonbandgerät aus und packte es in sein Mäppchen. "Kann ich telefonieren?"

Winkelried schob ihm den Telefonapparat hin.

"Bitteschön."

Borer schien Winkelrieds Frau zu telefonieren, denn er sagte: "Guten Tag Frau Winkelried, ist mein Kollege, Herr Marti, noch bei Ihnen? Könnte ich bitte mit ihm sprechen?"

Nach einer kurzen Pause sagte er: "Hallo, Rolf, hat alles geklappt? Ja, bei mir auch. Herr Winkeklried hat mir den Traum ausführlich erzählt, die reinste Märchenstunde..."

Borer verabschiedete sich knapp und war schon aus dem Büro verschwunden. Winkelried riss die Fenster auf, dann trug er den überfüllten Aschenbecher zur Toilette, wo er Borers Hinterlassenschaft hinunterspülte. Zurück im Büro, telefonierte er Wilma und erfuhr, dass bei seiner Frau ein anderer Kriminalbeamter erschienen sei, der sie ebenfalls nach dem Traum befragt habe.

"Was hast du erzählt?" fragte Winkelried.

"Nur das Wesentliche, ganz kurz", sagte Wilma, "und du?"

"Eine ausgeschmückte Version - mit allem Drum und Dran. Ich kam mir wie die Gebrüder Grimm vor..."

Wilma lachte. "Dann hast du ihnen viel Material geliefert! Aber was soll das Ganze? Wieso interessieren die sich für Träume?"

"Träume sind Schäume, meinst du? Du vergisst die Tiefenpsychologie! Nein, im Ernst: Ich glaube, das Ganze ist viel banaler. Die wollten wahrscheinlich einfach feststellen, ob wir gelogen hatten, als wir aussagten, ich hätte dir kurz vor Tellenbachs Sturz einen Traum erzählt. Jetzt wollten sie überprüfen, ob wir das Gleiche erzählen. Wenn du einen ganz anderen Traum erzählt hättest als ich, könnten sie uns überführen..."

"Des Mordes?" witzelte Wilma.

"Der Lüge. Und unser Alibi wäre nicht mehr glaubwürdig... Und dann würden wir weiter belästigt von diesem fürchterlichen Kettenraucher, der mein ganzes Büro verpestet hat!"

"Nein", wusste Wilma, "der junge Kriminalbeamte, der mich befragt hat, sagte mir, Borer sei nur Ferienaushilfe; normalerweise würden sie ihn nicht mehr auf die Leute loslassen. Nächste Woche käme der Chef aus den Ferien zurück. Dann hätten wir es mit jemand anderem zu tun..."

Winkelried schien von dieser Botschaft nicht besonders beglückt zu sein. "Am liebsten wäre es mir, ich könnte meine Zeit wieder sinnvoller einsetzen als für solch unnötige Verhöre! Entschuldigung, jetzt muss ich aufhängen - ich habe noch nichts gegessen. In zwanzig Minuten ist die Mittagspause zu Ende. Alles wegen diesem Tabakgilb!"

Winkelried eilte hinaus zur nächsten Imbissecke. Ein erneuter Anfall von Magenschmerzen verhinderte, dass er das Sandwich zu Ende ass.

Aber am darauffolgenden Dienstag besuchte tatsächlich ein braungebrannter, ferienentspannter neuer Kommissar - ein Herr Jäger - Frau Winkelried und teilte ihr mit, dass die Untersuchung nun abgeschlossen sei und der Fall ad acta gelegt werden könne. Die Ermittlungen hätten ergeben, dass Tellenbach verunglückt, nicht ermordet worden sei. Auch Selbstmord werde ausgeschlossen.

"Entweder hat Borer so gute Ermittlungsarbeit geleistet, dass aufgrund seiner Unterlagen dieser Entscheid nun rasch gefällt werden konnte", meinte Winkelried erleichtert, nachdem ihm seine Frau davon berichtet hatte, "oder er hat sich völlig unnötig ins Zeug gelegt... Aber ich frage mich, warum nur wir so hartnäckig verhört wurden. Warum nicht auch Frau Braun?"

"Nun hör' aber auf!" mahnte Wilma. "Als erwerbslose unverheiratete Mutter und Psychiatriepatientin hat sie Probleme. Sie soll nicht noch von einem Kriminalschnüffler belästigt werden!"

 

 

 

 

Eines Morgens erreichte sie das Liebesgedicht eines Unbekannten, deren Identität ihr verborgen blieb. Der Briefumschlag, den sie ihrem Postfach entnahm und in dem sie den rätselhaften Text fand, verschwieg Namen und Adresse des Absenders. Erstaunt und beunruhigt las sie die Zeilen eines Anonymlings, der sie aus einem Versteck heraus ansprach. Gezielt, doch feige, unfassbar wie ein Gespenst, übergoss er sie:

Zufällig

einen Augenblick kurz

fiel meine Seele

in deine Seele

beim alltäglichen Zwischenhalt

an der Bushaltestelle

Im Spiegel unserer Blicke

umarmte ich dich

freudig erregt

Sekunden schnell

getarnt

unter gewöhnlich Wartenden

Unser Lachen

durch die Fensterscheibe

in der glitzernden Mittagssonne

zertrümmerte

mit unhörbarem Klirren

die gläserne Wand.

Ihre Irritation verflüchtigte sich allmählich, denn der okkulte Verehrer meldete sich nicht mehr. War er ein poetisch veranlagter Spassvogel, ein frivoler Spieler - oder ein leidenschaftlich Besessener? Sie zwang sich, den Vorfall zu vergessen. Das Gedicht, diese wahnwitzige Liebeserklärung eines Unsichtbaren, bewahrte sie in ihrer Handtasche; von Zeit zu Zeit holte sie es hervor und las es im Stillen.