Auszüge aus dem 1978 entstandenen Kriminalroman

DIE MÜNZKöNIGIN STEHT KOPF

von Felix Feigenwinter

 

Erstes Kapitel

An einem hellen, warmen Augustabend, mitten in der Woche, erreichte der Journalist Louis Wolf auf der Heimreise von einem Ferienaufenthalt in Apulien   den Römer Flughafen. Seine Sinne waren noch verzaubert von der sonnendurchfluteten Landschaft des Südens, in der er die vergangenen Tage und Nächte verbracht hatte. Die Welt des grosstädtischen Flughafens erlebte er fast unwirklich. Schläfrig betrachtete er die bizarre Menschenmenge, die sich dort zusammenfand, und belustigt gewahrte er das Durcheinander von heiteren Touristen, geschäftigem Bodenpersonal und Leuten, die, wie ihre straffen Kleider und Mienen verrieten, nicht zum Vergnügen, sondern zur Erledigung gewichtiger Aufgaben reisten.

Da blieb sein Blick an einer eleganten und etwas exaltiert wirkenden jüngeren Frau haften, deren Erscheinung ihn heftig fessselte, bis er dahinter kam, dass ihm die Dame vertraut war.

Wartete dort nicht die französische Filmschauspielerin Françoise Hézard, die während Jahren als viel umschwärmtes Idol auch die Basler Kinos belebt hatte?

Sie war eine Reminiszenz aus seinem früheren Reporterleben, als er noch mit naiver Anfängerfreude auf Ereignisse aus war.

In einem jähen Anflug von Unternehmungslust, über die er sich später selber wunderte, eilte er der Schauspielerin entgegen. Er stellte sich als jenen Pressemann vor, der sie vor rund einem Jahrzehnt in seiner schweizerischen Wohnstadt Basel interviewt hatte.

"Ich sehe Sie noch genau vor mir", sagte er, nachdem er sie lebhaft begrüsst hatte: "Eine Zwanzigjährige mit blondem, über die Schultern fallendem Haar. Sie wirkten ziemlich bleich damals, auch ein wenig melancholisch. Und gestresst. Sie trugen einen weinroten Wildledermantel, einen Rollkragenpullover - war er nicht grün, olivgrün? - und einen karierten Faltenjupe. Unglaublich, dass seither zehn Jahre vergangen sind..."

Françoise Hézard schien sich an ihren damaligen Auftritt in Basel kaum zu erinnern. Doch nachdem sie nachgedacht und Wolfs Gesicht mit ruhigem Blick geprüft hatte, lächelte sie: "Ich weiss, damals war ich ziemlich garstig. Ich musste in Warenhäusern Zigarettenpäcklein signieren - das Ganze fand ich lästig; aber die Gage war verlockend. Ich kam wegen des Geldes nach Basel."

Wolf studierte sie sorgfältig. Die junge Frau schien voller und reifer geworden. Ihr Haar, das jetzt rötlich schimmerte, hatte sie zu einem schönen Knoten gebunden. Ihr Gesicht, das von einer Sonnenbrille beschattet war, wirkte sanfter, weniger trotzig als damals, vor zehn Jahren.

"Garstig waren Sie nur gegen die Herren vom Warenhaus", berichtigte Wolf. "Nachdem Sie am Basler Bahnhof von drei Männern mit einem Blumenstrauss abgeholt worden waren - ich hatte alles aus der Ferne beobachtet - , schleppte man Sie in das Büro des Warenhausdirektors, wo Ihnen zu Ehren ein kleiner Empfang stattfand. Müde hatten Sie sich auf einen Stuhl gesetzt. Ihr Gesicht erstarrte zur Grimasse, sobald einer der Männer ein Gespräch anknüpfen wollte. Aber als ich Ihnen vorschlug, für ein Interview einen ungestörteren Ort aufzusuchen, gingen Sie sofort darauf ein. Das war alles andere als garstig, das war sehr zuvorkommend."

Françoise musste lachen : "Ich benützte Ihre Einladung als Fluchtmöglichkeit. Als ich ins Warenhaus zurückkehrte, nachdem Sie mich eine Stunde lang für Ihre Zeitung ausgefragt hatten, war der Teufel los!"

Wolf grinste. "Die Warenhaus-Herren und der von der Zigarettenfirma beauftragte Manager waren verzweifelt", sagte er. "Sie hatten befürchtet, Sie seien spurlos verschwunden."

"Draussen wartete eine grosse Menschenmenge", bestätigte der Star. "Ich musste an jenem Vormittag Zigarettenpäcklein signieren - und am Nachmittag ging die Reise weiter nach Zürich..."

"Der Zwischenfall hatte wirklich einigen Staub aufgewirbelt", gab Wolf zu, "in der Boulevardpresse hatte man ihn spektakulär aufgebauscht."

"Das Skandalöseste hatten Sie geschrieben!", erinnerte sich jetzt Françoise. "Ich hatte Ihnen in jenem Garten-Restaurant, wohin Sie mich entführt hatten, erzählt..."

"Im Kunsthalle-Garten", präzisierte Wolf, während er sich eine Cigarre anzündete. Es war ihm selber peinlich: Er ertappte sich beim ungeschickten Versuch, Françoise abzulenken, und der Gedanke, dass ihn die Schauspielerin dabei durchschauen könnte, verwirrte ihn.

"Wie bitte?", hörte er sie fragen.

"Der Garten, in den wir damals gegangen waren, gehört zum Restaurant Kunsthalle. Es ist der Kunsthalle-Garten."

"Ach so. Also, im Kunsthalle-Garten hatte ich Ihnen erzählt, dass ich selber nicht rauchte. Und Sie hatten das in der Zeitung geschrieben! Die Herren von der Zigarettenfabrik, mit der ich unter Vertrag stand, hatte dies sehr erbost. Dabei stimmte es sogar: Ich war damals Nichtraucherin  - und trotzdem hatte ich mich  für die Zigaretten-Werbung zur Verfügung gestellt."

Wolf war froh, sich entschuldigen zu können. "Ich hielt das für einen besonders raffinierten Werbegag. Aber für Sie hatte sich der Abstecher in den Kunsthalle-Garten doch hoffentlich trotzdem gelohnt: Sie lernten dort ja auch Uz Kühn kennen!"

Uz Kühn war ein stadtbekannter Kunstmaler. Wolf und Françoise hatten ihn im Restaurant-Garten zufällig gesehen. Wolf kannte ihn schon damals gut; er hatte ihn der Schauspielerin vorgestellt, und es war ihm nicht entgangen, dass der Maler der Französin imponieren wollte. Heute wusste er, dass Kühn sie später mehrmals in Paris aufgesucht hatte. Verschiedene Frauenporträts, die Wolf in Kühns Ausstellungen der letzten Jahre gesehen hatte, wiesen darauf hin, dass sie sein Modell geworden war.

Françoise  zeigte sich nachdenklich.

"Uz Kühn", sagte sie vorsichtig; "wie geht es ihm?"

Bevor Wolf antworten konnte, hallte durch die Lautsprecher die Aufforderung an die Reisenden in die Schweiz, das Flugzeug zu besteigen.

"Sie hören, ich muss leider gehen... Uz habe ich schon lange nicht mehr gesehen. Wenn Sie es wünschen, werde ich ihm gern einen Gruss von Ihnen ausrichten. Wohnen Sie immer noch in Paris? Es würde mich freuen, Sie einmal besuchen zu dürfen!"

Françoise Hézard zog eine Visitenkarte hervor; Wolf steckte sie in seine Hemdtasche.

"Auf Wiedersehen! Gute Reise!"

"Au revoir..."

Françoise Erkundigung nach Kühns Befinden wollte Wolf nicht aus den Ohren. Während des Fluges nach Basel wurde ihm bewusst, dass er den Maler seit Wochen, ja Monaten nicht mehr besucht hatte. An Kühn hatte es gewiss nicht gelegen. Wiederholt hatte er den Journalisten zum Essen eingeladen: Telefonisch, brieflich oder auf der Strasse, wo die beiden zufällig aufeinanderstiessen.Früher hatte er den Maler regelmässig besucht. Gewöhnlich an späten Sonntagabenden hatten sich die Männer zum Schachspiel getroffen. Kühns Frau war für Nachschub von frischem Kaffee und Schnäpsen besorgt gewesen, und manchmal hatte sie dem Spiel auch bis zum Anbruch des Morgendämmers zugeschaut.

An anderen Abenden hatten sich in Kühns Haus seltsam zusammengewürfelte Gästescharen eingefunden. Ueber jene Parties gab es in der Stadt verstohlene Gerüchte. Neben einer Gruppe aussenseiterischer Menschen, die sich aus Kühns persönlichem Bekanntenkreis zusammensetzte, fanden sich immer auch Kunsthändler und Gemäldesammler ein - darunter wohlbestallte, zum Teil prominente Persönlichkeiten. Bei derartigen Treffen hatte es der Maler verstanden, für ihn nützliche Gespräche um den Verkauf seiner Bilder anzuknüpfen. War dies geschehen, so überliess Kühn seine Gäste gerne seiner Frau; er zog sich in sein Atelier zurück, wo er stundenlang pinselte.

Früher  hatte Wolf an solchen Einladungen häufig teilgenommen. Neugierig hatte er sich an einflussreiche Gäste herangepirscht. Für ihn war es eine bequeme Gelegenheit, Beziehungen anzuknüpfen, die seine journalistische Arbeit befruchteten. Aber mit der Zeit erlahmte sein Interesse. Einige Leute begannen ihn anzuöden, und schliesslich musste er sich eingestehen, dass ihn auch das Verhalten von Kühn ärgerte. Theres war von der ihr aufgezwungenen Gastgeberrolle überfordert. Ihre Depressionen, die nicht mehr zu übersehen waren, schien der Maler zu kultivieren. Er brachte ihnen das seichte Interesse des Aestheten entgegen, der leidende Frauen, wie er maliziös zugab, um sich scharte, weil sie ihn inspirierten. "Sieht sie nicht wie ein Bild aus?", sagten Gäste manchmal in Thereses Anwesenheit, und Kühn hatte befriedigt geschmunzelt.

Die Stimme der Stewardess aus dem Lautsprecher schreckte Wolf aus seinen Erinnerungen. Er schnallte sich fest und versuchte, aus dem ovalen Fensterchen zu spähen. Dicht unter ihm flog schief das Rheinknie vorbei; Basels Dächer breiteten sich aus.

Das erste, zu was es ihn nach seiner Ankunft im Flughafen drängte, war ein Telefonanruf in Kühns Haus: Er glaubte zu wissen, dass dies trotz der späten Stunde nicht als Störung empfunden wurde.

Die Stimme von Theres Kühn klang eigenartig belegt. "Seit vier Tagen ist Uz verschwunden", sagte sie. Es hörte sich an, als ob sie aus einem tiefen Traum erwacht wäre. Wolf versprach, am nächsten Tag vorbeizukommen.

War nicht er es gewesen, der damals, vor über fünfzehn Jahren, sie mit Uz Kühn zusammengebracht hatte? War nicht auch er mitschuldig daran, dass Theres ihre Berufsausbildung abgebrochen hatte und jetzt in einer unglücklichen Ehe verharrte? Theres erschien Wolf wie ein lebendiger Vorwurf, der ihn bis ans Ende seines Lebens verfolgen könnte...

 

Zweites Kapitel

Wolf hatte sich angewöhnt, nach dem Aufstehen, bevor er werktags zur Redaktion fuhr, in einer Café-Bar in der Nähe des Bahnhofs zu frühstücken. Dort schnupperte er in den Zeitungen, und manchmal traf er eine Klatschtante, die ihm Neuigkeiten erzählte. Heute hatte er zwar immer noch Ferien. Dennoch zog es ihn relativ früh zum Bahnhof, wo er die neuesten Blätter kaufte, die er an der Café-Bar lesen wollte. Seine Verstimmung von gestern Nacht schien verflogen. Zwar fühlte er sich verschlafen und auf eine rätselhafte Weise wirklichkeitsentrückt: Basel kam ihm wie eine fremde Stadt vor, zu der er keine Beziehung verspürte, obwohl er die Strassen, durch die er gehen musste, um zum Bahnhof zu gelangen, natürlich genau kannte.

Die grauen Häuserfassaden liessen ihn kalt. Es gelang ihm auch nicht, unter den vorbeigehenden Menschen irgend ein bekanntes Gesicht zu erspähen, das ihm vertraut zugelacht hätte. Da waren die einheimischen Italiener und die deutschen und englischsprechenden Touristen, die ihn während seiner Ferien umgeben hatten, doch entschieden lebhafter und offener gewesen.

Aber heute morgen hatte er sich sorgfältig geduscht, rasiert und gekämmt. Den Ferienschlendrian wollte er sich vom ersten Tag an abgewöhnen. Er hatte auch, noch während er unter der Badebrause stand, beschlossen, seinen Kollegen auf der Redaktion guten Tag zu sagen.

Als er sich dem Café näherte, bemerkte er, noch bevor er das Lokal betreten hatte, durch die Glastür ein bekanntes Gesicht, dessen Anwesenheit ihn an diesem Ort zutiefst erstaunte. Da sass doch tatsächlich Françoise Hézard, die er noch gestern abend in Rom überraschend getroffen hatte! War sie nicht nach Paris geflogen? Oder hatte er dies nur angenommen, ohne zu merken, dass die Französin wie er das Flugzeug in die Schweiz bestiegen hatte? Aber was tat sie nur in Basel?

Wie vor den Kopf geschlagen steuerte er auf den neben der Schauspielerin noch freien Barhocker zu. Doch dann schreckte er von seinem Vorhaben augenblicklich zurück. Er bemerkte  nämlich, dass Françoise nicht allein war:

Neben ihr lehnte der Kunsthändler Rico Filbing.

Dieser Mann gehörte zum weiten Bekanntenkreis von Uz Kühn. Wolf verspürte kein Bedürfnis, mit ihm in näheren Kontakt zu treten. Nicht, dass der Typ ihn irgendwann einmal bewusst gekränkt hätte. Aber dem Journalisten war dieser Mensch schlicht unsympathisch. Es hatte ihm nie gefallen, wie er sich an Uz Kühn herangeschlichen hatte und ihm zu Kaufhauspreisen grosse Bilderposten abluchste, die er dann einzeln zu Liebhaberpreisen verkaufte.

Natürlich war Kühn, der in seiner mehr verspielten Art ja auch ein gerissener Kerl war, selber schuld, dass er sich auf einen solchen Händler einliess, den er früher eine zeitlang wie einen Freund behandelt hatte, bevor er hinter seine Schliche gekommen war. Und selbstverständlich war es Filbings Recht, seinen Handel möglichst gewinnbringend aufzuziehen. Aber die Schamlosigkeit, mit der er freundschaftliche Verhältnisse zu Malern ausnützte, stiess Wolf ab.

Er machte schnell kehrt. Weder Françoise noch Filbing schienen ihn bemerkt zu haben. Sein Frühstück nahm er heute in einem anderen Lokal in der Nähe ein. Das hatte den Vorteil, dass er das eigenartige Paar in der Café-Bar gegenüber ungesehen beobachten konnte.

Seltsam: Seit zehn Jahren war er Françoise Hézard, die er damals auch nur zufällig als Reporter kennengelernt hatte, nicht mehr begegnet - und nun sah er sie innert weniger Stunden gleich zweimal in zwei hunderte von Kilometern auseinanderliegenden Städten! Und das nicht einmal in Paris, wo sie wohnte!

Was führte sie nach Basel?

Hatte ihr Besuch gar mit dem Verschwinden Kühns zu tun, das Theres letzte Nacht am Telefon angedeutet hatte?

Aber warum hatte Françoise davon im Römer Flughafen nichts erwähnt, obwohl sie von Kühn gesprochen hatten? Welche Beziehungen hatte sie zu Filbing? Haben die beiden, so fuhr es Wolf durch den Kopf, ein Verhältnis? An diese Möglichkeit wollte er nicht so recht glauben. Es schien ihm unwahrscheinlich, dass die doch gewiss sehr umworbene Schauspielerin ausgerechnet diesem Kerl ihre Gunst erweisen solle. Im übrigen schien, wie auch Aeusserungen in Kühns Haus immer wieder bestätigten, Filbing weder ein Frauenheld noch ein Frauenfreund zu sein. Oder schätzte Wolf Filbing falsch ein - oder Françoise Hézard?

Nun sah er die beiden aus der Café-Bar kommen. Da er sein Frühstück schon bezahlt hatte, konnte er ihnen sofort folgen. Sie überquerten die Strasse vor dem Bahnhof. Seine Vermutung, dass Filbing Françoise zum Zug nach Paris begleiten würde, bestätigte sich. Aus einem Versteck, das er sich in einer Telefonkabine einrichtete, beobachtete Wolf, wie sie sich verabschiedeten. Fast genüsslich bemerkte er, dass sie nichts Herzliches zu verbinden schien. Filbing war in einer aggressiven Weise gesprächig, und die Hézard hinterliess einen nervösen, fast gehässigen Eindruck. Ein Liebespaar war das kaum.

 

Drittes Kapitel

Und dann war da noch eine andere Begebenheit, die Wolfs Vorhaben, zu Theres Kühn zu fahren, um einige Stunden verzögerte.

Auf der Redaktion, die er nach seinem Abstecher beim Bahnhof aufgesucht hatte, begegnete er vielen nervösen Menschen. Diese Erfahrung wiederholte sich jedes Mal, wenn er aus den Ferien zurückkehrte. Da war er selber stets die ausgeglichenste Person, und alle andern schienen am Rand von Nervenzusammenbrüchen zu leben. Aber schon nach wenigen Tagen würde auch ihn der nervenkitzelnde Zeitungsbetrieb absorbiert haben, und er würde wie die anderen mit erhöhtem Blutdruck, fuchtelnden Armen und verzerrtem Gesichtsausdruck durch die Gänge eilen, Telefone abnehmen und in die Schreibmaschinentasten greifen. Für einen Aussenstehenden war es vermutlich ein abschreckendes Bild; aber als ein vom Zeitungsbetrieb Angefressener mochte er diesen aufwühlenden Stress nicht missen.

Möglich, dass er, wenn er älter würde, sich nach mehr Geruhsamkeit sehnen würde - dieses Bedürfnis ahnte er mehr abstrakt; er verspürte es noch nicht. Noch fand er Spass daran, in diesem Irrenhaus mitzuwirken und den Puls des öffentlichen Lebens sozusagen hautnah zu fühlen und auch zu beeinflussen.

Nach freundschaftlichen Wortwechseln mit seinen herumrasenden und ihre Schreibmaschinen malträtierenden Kollegen zog er sich in sein Büro zurück, wo er vorerst in den auf seinem Pult sich häufenden Papieren herumschnüffeln und später Theres Kühn anrufen wollte. Aber bevor er das tun konnte, meldete die Telefonistin auch schon den ersten Anruf für ihn.

"Louis? Du bist's? Hier Isabelle. Wie geht's? Was gibt's Neues in Basel?"

Wolf war perplex: Da meldete sich Isabelle Raben, die frühere Redaktions-Assistentin dieser Zeitung! Nach einem Zerwürfnis mit dem Chefredaktor hatte sie sich zuerst nach Rom und später nach Paris abgesetzt, wo sie zu einer international beachteten Figur geworden war. Zum letzten Mal hatte sie Wolf vor vielleicht sechs Jahren auf der Basler Redaktion gesehen - nein, richtig: Einige Wochen später war sie dann nochmals in der Rio-Bar in der Begleitung von Uz Kühn aufgetaucht. Aber das war nur eine unscharfe Erinnerung an eine flüchtige Begegnung. Danach blieb sie für Wolf verschollen. Nur ab und zu hörte er ihre Stimme am Radio, las in einer französischen Zeitung ihre Artikel und erlebte sie zuhause am Fernsehschirm bald in einer Diskussionsrunde, bald in einer Talk-Show.

Kein Zweifel, Isabelle war eine gemachte Frau. Wolf anerkannte es neidlos. Beruflich hatte sie es weiter als er selber gebracht. Vor acht Jahren war sie noch seine Hilfsreporterin gewesen!

Dass sie nach einer derart langen Pause wieder bei ihm auftauchte, etwa so, als ob sie zusammen  noch gestern abend im Kino oder im Theater gewesen wären, rang ihm ein gerührtes Lächeln ab. Diese Anhänglichkeit war ihm vertraut. Sie stand in krassem Widerspruch zu ihrer steilen Berufslaufbahn, die keine Sentimentalitäten duldete. Es war, als ob sie sich in einem Winkel ihrer schillernden Seele einen Bereich aus der Kindheit bewahrt habe. Von den unbarmherzigen Stürmen des Existenzkampfes der letzten Jahre, der sie im Wettstreit mit den stärksten Männern in deren oberste Hierarchien geführt hatte, schien dieses Paradiesgärtchen verschont geblieben zu sein.

Ob es Isabelle auch so sah?

Es drängte Wolf, seine Empfindungen in ein Kompliment zu kleiden: "Während du dich im Ausland zu einer internationalen Berühmtheit emporgestrampelt hast, trete ich immer noch am gleichen Ort. Es ist für mich eine unverdiente Freude, als gewöhnlicher Sterblicher von dir jetzt sogar mit einem Telefonanruf beehrt zu werden!" Isabelle schien nicht zum Spassen aufgelegt. Sie überging Wolfs Redeschnörkel, der ironischer wirken mochte, als er gemeint war, und sie sagte sachlich, ohne Bissigkeit:

"Du scheinst immer noch der Alte zu sein. Kann ich dich irgendwo sehen?"

"Wo bist du?"

"Am französischen Bahnhof. Ich komme aus Paris. Kann ich dich auf der Redaktion treffen?"

"Natürlich... Wann?"

"Gleich jetzt."

Wolf sagte aufgeregt zu. Er freute sich auf dieses Wiedersehen. In diabolischer Spannung sah er dem Zusammentreffen der ehemaligen Redaktions-Assistentin und heutigen Star-Publizistin mit dem Chefredaktor Springinsfeld entgegen. Denn Springinsfeld war es, der den Weggang der Raben auf dem Gewissen hatte, weil er sie nicht als hervorragend begabte junge Journalistin anerkannt und gefördert, sondern als billige Arbeitskraft für redaktionelle Hilfsdienste einzuspannen versucht hatte. Die brillant mehrsprachige, quirlige Isabelle (nach Wolfs Überzeugung ein seltenes Sprachgenie) entzog sich diesem Zugriff. Sie hatte gekündigt und war nach Rom gereist, wo sie schnell zur Starreporterin einer Frauenzeitschrift aufgestiegen war, bevor sie in Paris eine noch glänzendere Karriere machte.

Es verstrichen nur wenige Minuten, bis Isabelle im Verlagsgebäude eintraf. Wolf erwartete sie im Treppenhaus. Es gab einen stürmischen Empfang. Weiter oben, im Korridor,  raschelte eine nervöse Gestalt an ihnen vorbei. Es war der Chefredaktor Springinsfeld.

"Hallo, Chef, darf ich Ihnen unsere neue Redaktionsassistentin vorstellen?"

Springinsfeld hatte keinen Sinn für Neckereien. Er verschwand schnaubend in seinem Büro.

Wolf eilte ihm nach. "So einen kostbaren Besuch dürfen Sie nicht verpassen", sagte er und schob Isabelle über die Türschwelle. Springinsfeld hatte soeben seine Fenster geöffnet. Der Luftzug richtete Böses an: Säuberlich über das Pult verteilte Manuskripte wirbelten auf, flatterten zu Boden und einige aus dem Fenster.

"Halt, halt, Türe zu!", zeterte der Chefredaktor, doch es war zu spät. Feixend entkamen die Missetäter in den dunklen Korridor.

Nach diesem Erlebnis verspürte Wolf heftigen Hunger. Als ob Isabelle sein Bedürfnis erraten hätte, fragte sie:

"Gehen wir essen?"

"Wo?"

"Im Kunsthalle-Garten?"

Wolf passte der Vorschlag. Unter den buschigen Schirmen der Kastanienbäume liess sich geruhsam essen und plaudern. Einige sparsam im Sommergarten verteilte Bildhauerwerke verbreiteten die gediegene Atmosphäre öffentlicher Kunstpflege. Ganz in der Nähe, auf dem Theaterplatz, verspritzte der Brunnen von Jean Tinguely, eines berühmten Sohnes der Stadt, seinen Wassersegen.

"Noch ganz hübsch, nicht?", sagte Louis Wolf, "unser Tinguely-Brunnen. So verspielt."

Isabelle zeigte sich unbeeindruckt.

"Etwas brutal", meinte sie, "dieses kantige Metall im Wasser... Hier möchte ich nicht baden."

 

Viertes Kapitel

Wolf genoss es, mit Isabelle unter den schattigen Bäumen zu sitzen. Es wurde ihm bewusst, dass ihm noch fast vier Tage bevorstünden, an denen er über seine Zeit frei verfügen und keine Termine einzuhalten hatte. Seine Ferien würden noch bis zum nächsten Montag dauern. Frei von drängenden journalistischen Verpflichtungen, fast vollständig entspannt, betrachtete er, nachdem sie zusammen gespeist hatten, seine Gesprächspartnerin. Sollte er Isabelle seinen bevorstehenden Besuch bei Theres Kühn verraten, das kurze Telefongespräch, das er mit ihr gestern noch geführt hatte? Sollte er ihr, die Françoise Hézard vor sieben Jahren, wie sie ihm damals erzählt hatte, bei Uz Kühn getroffen und kennengelernt hatte, von seiner Begegnung in Rom berichten? Vielleicht hatte sie immer noch Verbindung zu ihr  - beide wohnten ja in Paris?

"Du siehst absolut zufrieden aus", spöttelte Isabelle. Wolf zog seine Stirn in bekümmerte Falten, als ob er das Gegenteil beweisen wollte.

"Das Verschwinden von Kühn macht mir Sorge", sagte er bewusst geheimnisvoll, um Isabelles Neugier zu wecken.

"Kühn?", fragte sie, Wolf vermutete, nur scheinbar gleichgültig, "du meinst Uz Kühn? Er ist verschwunden, sagst du?"

In diesem Augenblick erschien der Kellner, um die leergegessenen Teller wegzutragen. Statt das Gesprächsthema fortzusetzen, bestellte Isabelle für sich und Wolf Kaffee.

"Und mir bitte ein Stück Apfelkuchen", ergänzte der Journalist, "nimmst du auch eines - oder vielleicht einen Eiscoupe?"

"Nein, danke."

"Oder einen Cognac?" - "Das schon eher..."

Wolf bestellte zwei Cognacs. Dass er mit Isabelle im Kunsthalle-Garten sass, war schliesslich nichts Alltägliches.

Er überlegte gerade, wie er das Gespräch wieder auf Kühn lenken könne, als er von weitem eine junge Dame heranschwirren sah: Yolanda, die Museumsfotografin, mit der er beruflich oberflächlich zu tun hatte. Sie setzte sich an ihren Tisch und begann zu tratschen. Ihr Redeschwall begrub das von Wolf angepeilte Thema "Kühn" vollständig. Da ihn ihre Art, Phantasie zu versprühen, immer wieder von neuem begeisterte, erhob er keinen Einspruch. Anderseits bemerkte er, dass Isabelle durch den Konversationswirbel der Fotografin merkwürdig irritiert war, fast gequält, wie jemand, der Ruhe sucht. Vielleicht war sie müde. Wolf nahm das alles aber nur traumhaft wahr, ein wenig abwesend, zumal die Erscheinung der Fotografin, die hier aus- und einging, ihn eher ablenkte von einem Vorhaben, dessen Umrisse ihm immer noch verschwommen vorkamen.

Zudem erblickte er jetzt ein Trio, das soeben in den Garten einbog. Hans Vollsand, Richard Bettweiler und Xaver Krachen, drei unzertrennliche Freunde, die ihm früher oft in Kühns Haus begegnet waren, suchten einen freien Tisch. Die drei Männer waren unverheiratet. Der eine war Professor der Jurisprudenz, der zweite Bibliothekar, und der dritte ein ewiger Philosophiestudent, der ab und zu Theaterkritiken schrieb. Das Trio sah man seit Jahren an Vernissagen, Theaterpremieren und Konzerten auftauchen. Dominante Gestalt war der Professor, der von seinen beiden ständigen Begleitern auch durch seine äussere Erscheinung abstach. Im Gegensatz zum vollbärtigen Philosophiestudenten, der allerdings im Stadtbild auch schon markant wirkte, hatte er bei näherem Hinsehen eine ausserordentlich spitze Nase, geradezu eine Schnabelnase. Wolf verglich ihn insgeheim mit einem Federvieh, dem viel daran lag, zwei untergeordneten Artgenossen unentwegt seinen Einfluss in der Gesellschaft vorzuführen, in die er sich aus unerklärlichen Gründen verirrt hatte und in der er sich ohne seine beiden artverwandten Begleiter unglücklich gefühlt hätte.

Wolf beobachtete jetzt, wie der Professor den soeben frei gewordenen Nachbartisch anpeilte, den er vor langsameren Gästen ergatterte und mit eitler Gebärde sicherstellte, bis seine beiden Begleiter den durch Stuhl- und Menschenbeine verstellten Weg ebenfalls überwunden hatten. Wolf erhob sich diskret, da er das Gespräch zwischen Yolanda und Isabelle nicht weiter stören wollte, obwohl die beiden Frauen ihn nicht ausdrücklich ausgeschlossen hatten. Er wechselte zum Tisch mit den unzertrennlichen Freunden. Ob sie in letzter Zeit bei Kühn gewesen waren? Dann wussten sie vielleicht Näheres über sein Verschwinden, das Theres am Telefon angedeutet hatte, und über Thereses Gesundheitszustand?

Der Professor war der erste, der den Journalisten begrüsste. Er winkte ihm in jener burschikosen Art zu, die kindlich gewordenen Greisen eigen ist, obwohl Hans Vollsand, wie Wolf vermutete, kaum älter als er selber war. Er gehörte sicher zu den jüngsten Universitätsprofessoren in dieser Stadt.

"Seht mal, wer da kommt", machte der Jurist seine Begleiter auf das Erscheinen des ungebetenen Gastes aufmerksam. Seine Freundlichkeit wirkte gackernd-gespreizt.

Auch die beiden anderen schienen Wolfs Anwesenheit nicht unbedingt zu schätzen. Sie waren in ein Gespräch vertieft, das sie schon auf dem Weg zur Kunsthalle erregt zu haben schien, und Wolf hielten sie für eine Art Eindringling.

"Mit den Frauen macht es nicht immer Spass", piepste der Bibliothekar. Er sagte es mit einem provokativen Unterton in der Stimme, vermutlich, um Wolf verstehen zu geben, dass ein Aussenstehener die Diskussion nicht zu stören imstande war.

"Liebe lässt sich nicht erzwingen", salbaderte der ewige Student gelassener; "Vergewaltiger und andere Triebverbrecher sind eigentlich immer verhinderte Sexualbeglücker - und umgekehrt sind alle glücklich Liebende verhinderte Triebverbrecher. Glück in der Liebe, oder sagen wir es banaler: in der Triebbefriedigung, ist immer Glücksache."

"Wenn ich erkenne", ereiferte sich der empfindliche Bibliothekar, "dass eine Frau nicht mich persönlich, sondern mich als männliches Objekt zum Gebrauch meint und benützen will, ziehe ich mich zurück. Dann lieber Selbstbefriedigung, da bleibt man wenigstens souverän!"

"Wir unterhalten uns über den Orgasmus-Rummel, der gegenwärtig die Spalten gewisser Blätter füllt", orientierte der Professor, dem es offenbar peinlich war, dass seine Freunde ihre delikaten Probleme vor dem Journalisten ausbreiteten.

"Objektiv muss wohl festgestellt werden", versuchte Vollsand die Auseinandersetzung mit sachlicher Wissenschaftlichkeit zu schliessen, "dass die Menschheit die Probleme der Sexualität noch immer nicht gelöst hat, und somit auch nicht die damit zusammenhängenden Fragen der menschlichen Aggression. Die meisten sozialen und juristischen Fragen haben damit zu tun."

Wolf grinste auf den Stockzähnen. Er hatte da offenbar die Schlussphase eines privaten Kollegs über unbewältigte Sexualität mitbekommen. Äusserlich hüllte er sich in gemessenes Schweigen. Er wollte die drei Freunde nicht verärgern. Heimlich spähte er zum Tisch, wo Isabelle und Yolanda lebhaft diskutierten.

"Sie fühlen sich wohl ausgeschlossen, mein Lieber?", versuchte der ewige Student Wolfs Schweigen zu deuten.

"Nicht ausgeschlossen, lediglich etwas provoziert", grinste nun Wolf.

"Oder desinteressiert?", argwöhnte der Bibliothekar.

"Keinesfalls", beschwichtigte Wolf, "da unterschätzen Sie die angeborene psychologische Neugier von uns Journalisten. Aber ich möchte auf Ihre sicher aufschlussreiche Auseinandersetzung jetzt trotzdem nicht näher eingehen, nachdem der Professor bereits ein markantes Schlusswort gesprochen hat. Etwas ganz anderes geht mir durch den Kopf" - Wolf versuchte, den Uebergang von der Ironie zum Ernst möglichst nahtlos zu gestalten - "nämlich eine Erinnerung: Haben wir uns zum letzten Mal nicht im Haus von Uz Kühn gesehen?"

Wolf hatte instinktiv ins Schwarze getroffen. Vor allem der Professor konnte seine Betroffenheit nicht verbergen. "Stimmt, stimmt", babbelte er aufgeregt, vergeblich darum ringend, seine Ueberlegenheit wieder zu erlangen.

Seiner Stimme war anzuhören, dass es ihm da um eine äusserst ernste Angelegenheit ging, anders als beim Thema um die Sexualität von vorhin, das er offensichtlich vor allem seinen engagierteren Freunden zuliebe  diskutiert hatte. "Ich habe Sie schon lange nicht mehr bei Kühn gesehen", nahm er den Dialog auf. "Sie waren früher doch öfters dort?"

Wolf entging es nicht, dass Vollsand von sich abzulenken versuchte, indem er zum Gegenangriff ausholte. Er war aber nicht im geringsten betroffen, denn dem Professor gegenüber fühlte er sich über seine Beziehung zum Ehepaar Kühn keiner Rechenschaft schuldig.

"Sie haben recht," gab er offen zu; "zu viele Leute dort gingen mir einfach auf die Nerven!"

Jetzt räusperte sich der ewige Student. "Einmal hatte einer der Gäste", berichtete er, "ein gewisser Hugo, die Hauskatze am Schwanz gepackt und mit voller Wucht gegen die Wand geschleudert."

Der Professor bestätigte diesen Vorfall. "Genau das ist der Grund, weshalb wir nicht mehr dort gewesen sind. Eine Ausnahme war die Vernissage vor zwei Wochen."

"Vor zwei Wochen?", wunderte sich Wolf, "da war ich in den Ferien. Erzählen Sie!"

"Kühn hatte eine Atelierausstellung", informierte der Professor. Seine Stimme wirkte wieder unsicher. "Es wimmelte von Leuten. Leute zum Teil, die ich dort früher nie gesehen hatte. Ein   schwarzer Jazzmusiker, ein Pianist aus Paris  - sein Name ist mir im Moment entfallen -  dann ein italienischer oder Tessiner Bankdirektor. Merkwürdig..."

Des Professors Stimme versiegte. Er wirkte jetzt echt verwirrt. Irgend etwas schien ihn zu beschäftigen."Kühn selber war auch da?"

"Natürlich war Kühn anwesend, warum fragen Sie?"

"Und Rico Filbing,, haben Sie ihn gesehen?"

"Sie meinen den Kunsthändler?", fragte der Bibliothekar, "Jaja, doch, der war ebenfalls dort."

"Auch Françoise Hézard?"

"Françoise Hézard -  die Filmschauspielerin?"

"Genau die meine ich."

"Soll die auch zum Bekanntenkreis von Uz Kühn gehören?", staunte der Professor.

"Ja", sagte Wolf, "sie ist sein Modell."

"Sein Modell?!", rief Richard Bettweiler lüstern.

Es war Wolf jetzt klar, dass Françoise Hézard an jener Vernissage nicht dabei war.

"Und Theres Kühn?", forschte er weiter.

"Theres Kühn..." Wiederum verstummte der Professor. Er schien nun ernstlich verstört. Sein Blick, den er seinen Freunden zuwarf, und den diese kaum erwiderten, klammerte sich schliesslich an Louis Wolf.

"Theres Kühn", holte er zu einem neuen Anlauf aus. Er befleissigte sich offensichtlich, den üblichen nüchternen Tonfall seiner dünnen Professorenstimme zu finden, "ja, sie war auch dort. Sie hat es schwer. Was soll man dazu sagen?"

Hans Vollsand versuchte zu lachen, aber es wirkte gekünstelt. Seine Besorgnis, woher sie auch rühren mochte, war nicht zu überhören.

"Kühn ist verschwunden", sagte nun Wolf, "ich habe gestern nacht mit Theres Kühn telefoniert. Sie sagte mir, ihr Mann sei verschwunden. Seit einigen Tagen. Ihr scheint es nicht besonders gut zu gehen..."

Der Professor verzog sein Gesicht zu einer bedeutungsvollen Grimasse. Seine Betroffenheit konnte er nicht mehr überspielen. Hilflos blickte er zu seinen beiden Begleitern.

Louis Wolf schien es angemessen,  sich zu verabschieden. "Die Herren entschuldigen", sagte er, als er sich erhob, um sich an den Nachbartisch zurückzuziehen. Dort schickte sich die Museumsfotografin eben an, aufzubrechen.

"Besuch mich in Paris", hörte er Isabelle sagen.

Yolanda fragte Wolf: "War's vergnüglich?" Sie deutete zum Tisch des Trios.

"Professor Vollsand und seine Freunde diskutierten unter anderem über Sexualität."

"Schwachsinn", schimpfte Isabelle; "dieses Zeug bringt uns nicht weiter! Und schon gar nicht, wenn es von Männern behandelt wird..."

"Mais non, mais non, il faut aimer les gens", schwelgte Yolanda und schüttelte noch Wolfs Hand, bevor sie davonschwebte.

"Schon halb fünf!", schrak Isabelle zusammen, nachdem sie auf die Uhr gesehen hatte, "wie man doch seine Zeit vertratschen kann!"

Wolf hatte sie noch fragen wollen, ob sie ihn zu Theres Kühn begleite. Aber angesichts ihrer plötzlichen Eile liess er es bleiben. Offenbar hatte sie einen für sie wichtigen Termin. Seinetwegen war sie bestimmt nicht nach Basel gekommen.

Nachdem sich die beiden verabschiedet hatten, Isabelle mit dem nicht unfreundlichen Hinweis darauf, dass sie sich morgen vermutlich noch einmal bei ihm melden würde, rief er ein Taxi herbei. Jetzt konnte ihn niemand mehr davon abhalten, zu Kühns Haus zu fahren.

 

Fünftes Kapitel

Die alte Villa befand sich ausserhalb der Stadt. Sie war eines der letzten Herrschaftshäuser aus dem 19. Jahrhundert, die nicht der grassierenden Abbruchwut zum Opfer gefallen war. Das Gebäude war ziemlich renovationsbedürftig geworden. Kühn hatte bisher nichts ausbessern lassen, abgesehen von einigen Innendekorationen, und ausser dem Dach, durch welches bei heftigem Regen das Wasser in den Estrich tropfte. Aber trotz seinem abgetakeltem Zustand wirkte das Haus immer noch feudal.

Kühn hatte die Liegenschaft von einem Kunstfreund günstig erworben. Hämische Gerüchte hatten damals in der Stadt zirkuliert. Die einen sprachen von einer homosexuellen Beziehung zwischen dem reichen Kunstsammler und Kühn, und andere glaubten zu wissen, dass Geschäftsmänner und andere einflussreiche Leute, die in der Folge bei Kühn ein- und ausgingen, ihr Interesse an einem originellen gesellschaftlichen Treffpunkt mit dem Entgegenkommen an einen ihnen zusagenden Künstler verbunden hätten. Die wahren Zusammenhänge waren auch für Wolf im Dunkeln geblieben; er hatte sich dafür nie besonders interessiert. Er nahm einfach an, dass Kühn, der schon damals zu den reputiertesten Künstlern in der Stadt gehörte, viele Bilder so teuer verkaufen konnte, was ihm ermöglichte, sich den Luxus eines herrschaftlichen Sitzes zu leisten.

Die Liegenschaft - zu ihr gehörte ein grosser, parkähnlicher Garten, der auf Kühns Wunsch weitgehend verwildert blieb - bestand auch noch aus zwei weiteren, kleineren Steingebäuden und einem Schopf. In dem einen Haus hatte Kühn sein Atelier eingerichtet. Im anderen Gebäude, das schräg hinter der Villa stand, hauste Beat Leier, ein ehemaliger Schreiner, der den Garten pflegte. Kühn hatte ihn vor vielen Jahren in einer Kneipe aufgelesen; seither wohnte der Mann im Gärtnerhaus.

Wolf wies den Taxichauffeur an, das Auto bis vor den Eingang der Villa zu fahren. Zu seinem Erstaunen stand die Haustür offen. Befremdlich war die Stille, die zu dieser Abendstunde die Liegenschaft umhüllte. Ueblicherweise drangen um diese Zeit Stimmen von Besuchern aus dem Salon im Erdgeschoss. Heute war alles stumm.

Wolf betrat das Haus und stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf. Auch dort vernahm er keinen Laut, ausser den Geräuschen, die er selber verursachte. Auf sein Rufen reagierte niemand. Es war ja schon seltsam, dass die Kühns ihre wertvollen Möbel und Bilder, das kostbare Geschirr und die anderen Raritäten, die sich hier angesammelt hatten, im offenstehenden Haus unbewacht liessen, dachte er. Er erklomm die Treppe zum zweiten Stock, wo sich, wie er wusste, die Schlafgemächer befanden.

"Hallo, ist jemand da?" Er sah, dass eine Tür nur angelehnt war. Lauernd trat er hinzu. Er klopfte vorsichtig. Da hörte er ein leises Stöhnen.

Er schob die Tür ganz auf und entdeckte Theres Kühn auf ihrem Bett. Sie trug Tageskleider; die Vorhänge waren zugezogen, so dass sie im Dunkeln lag.

"Theres, ich bin's, Louis!" sagte er laut und deutlich. Aber die Frau auf dem Bett antwortete nicht.

Als er sie näher betrachtete, bemerkte er, dass sie starr an ihm vorbeisah. Jetzt vernahm er ein leises Zischen. Sie atmete schwer, als ob sie am Ersticken wäre. Ihr Blick haftete an der Stelle, wo sich ein dünner Lichtstreifen bewegte, der zwischen den Vorhängen ins Zimmer drang.

"Kann ich Dir helfen?" flüsterte Wolf. Er hatte sich über die Kranke gebeugt, um sie besser verstehen zu können. Langsam hob sie den rechten Arm. Sie deutete gegen den kleinen Tisch, der an der gegenüberliegenden Wand stand

Wolf suchte die Tischplatte mit den Augen ab. Er sah darauf ein Buch und eine Vase mit welken Rosen stehen. Daneben bemerkte er eine Agenda. Diese nahm er zu sich. Er blätterte und fand eine Liste mit Telefonnummern.

 

"Soll ich telefonieren?" fragte er; "wem?"

 

Er las die Notizen. Dabei fiel ihm der Name "Dr. Hanno" auf. War das nicht Thereses Arzt? Zu Kühn hatte seinen Namen doch einmal erwähnt. "Soll ich Doktor Hanno anrufen?" fragte er.

 

Er stellte die Nummer ein. Eine Tonbandstimme meldete sich: "Hier ist die Praxis Dr. Hanno. Sie hören ein Tonband. Die Praxis ist zu den üblichen Zeiten geöffnet. Telefonisch können Sie mich morgens zwischen acht und zwölf und nachmittags zwischen zwei und fünf erreichen. Uebers Wochenende ist die Praxis geschlossen. Ich danke Ihnen für Ihren Anruf."

 

"Eine Automatenstimme", entfuhr es Wolf. Er sah, wie Theres gegen das Telefonbuch zeigte, das auf einer Kommode neben dem Telefon lag. Natürlich - Hannos Privatadresse! Ob er überhaupt zuhause war?

 

Wolf wählte die Nummer. Dann hörte er eine leise, trockene Stimme, die vorsichtig, beinahe abweisend klang. Der Psychiater meldete sich persönlich.

 

Wolf schilderte Thereses Zustand und bat den Arzt, so schnell als möglich vorbeizukommen. Aber Dr. Hanno liess sich nicht beeindrucken. "Sie soll morgen in meine Sprechstunde kommen", sagte er.

 

"Das kann sie nicht", beharrte Wolf, "sie ist schwer krank..."

 

"Rufen Sie einen Arzt", meinte Dr. Hanno.

 

"Sie sind doch Arzt?!"

 

"Den Hausarzt", erklärte den Psychiater.

 

"Den kenn' ich nicht", trotzte Wolf, "Thereses Mann ist nicht da. Ich bin ein Bekannter, der zufällig im Haus ist. Was soll ich tun - mit einer Schwerkranken?"

 

"Die Medizinische Gesellschaft kann Ihnen den Notfallarzt nennen", informierte  Hanno; "sehen Sie im Telefonbuch unter 'Medizinische Gesellschaft' nach!" Damit war das Gespräch beendet.

 

Bis Wolf die Medizinische Gesellschaft herausgesucht und die Telefonnummer des Notfallarztes eruiert hatte, verstrichen weitere Minuten. Der Norfallarzt war, wie er befürchtet hatte, nicht zu Hause. Seine Frau oder Arztgehilfin versprach aber, sie würde ihn sofort benachrichtigen.

 

In Wahrheit verging noch fast eine Stunde, bis das Auto des Doktors vorfuhr. Wolf überlegte während dieser Zeit, ob er Theres nicht im Taxi in ein Spital fahren sollte - dann wieder machte er sich Selbstvorwürfe, dass er nicht schon gestern nacht oder wenigstens heute morgen hierhin gefahren war.

 

Der Doktor war ein unkomplizierter, wortkarger Mann, der Theres kurz untersuchte und ihre Einweisung in die Klinik veranlasste. Seine Diagnose: "Sie steht unter der Einwirkung von Drogen, wahrscheinlich von Heroin. Offenbar eine Ueberdosis. Sie scheint noch nicht lange süchtig zu sein; ich fand nur wenige Einstichstellen."

 

Sechstes Kapitel

Nachdem das Krankenauto und der Doktor weggefahren waren, trieb es Wolf, aufgewühlt, wie er war, durch den Garten zu dem hinter Gebüsch versteckten Atelier-Haus. Als er unterwegs stehenblieb und aus einiger Distanz Kühns Villa betrachtete, fröstelte ihn. Das Haus wirkte unsäglich düster; im Schatten der Bäume schien es zu versinken. Das Bild passte zu dem, was er im Verlauf der letzten Stunde erlebt hatte.

In finstere Gedanken versunken war Wolf vor dem Atelier-Haus angelangt. Zu seinem Erstaunen bemerkte er jetzt, dass davor ein kleiner Lastwagen stand. Neugierig schlich er sich hinzu. Da sah er rund drei Dutzend Bilder von Kühn auf der Ladebrücke fein säuberlich aufgeschichtet. Die kommen wohl von einer Ausstellung, dachte Wolf, und er betrat das Atelier, dessen Tür nur angelehnt war.

Nachdem er sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte, nahm er überrascht wahr, dass sich noch ein anderer Mensch im Raum befand. Er zeichnete sich als Silhouette ab. Die dunkle Gestalt sass auf einem Schaukelstuhl am Fenster und blätterte in einer Mappe mit Aquarellen. Plötzlich erhob sich der Mann, klappte den Umschlag zu und warf die Mappe auf den Boden. Der Journalist hatte ihn offenbar erschreckt, und nun erkannte Wolf, dass Rico Filbing vor ihm stand.

"Guten Abend", sagte Wolf gelassen. "Wissen Sie, wo Uz zu finden ist?"

Filbing schüttelte den Kopf. "Keine Ahnung." Nach einer Pause: "Er hat mich beauftragt, diese Bilder zu ordnen und wegzutransportieren - für eine Ausstellung..."

Das tönt wie eine Rechtfertigung, dachte Wolf; aber es wirkt nicht überzeugend. Filbings Stimme tönte heiser und unsicher.

"Wann haben Sie Kühn zum letztenmal gesehen?", fragte Wolf.

"Vor einigen Tagen - am letzten Montag."

"Der Camion da draussen gehört wohl Ihnen?"

"Sie haben's erraten."

"Wo findet die Ausstellung statt

"Nicht hier... nicht in Basel. In Zürich, es gib eine grossartige Schau..."

"Wann ist die Vernissage?"

"Ist noch nicht terminiert."

"In Zürich also", betonte Wolf, als ob er Filbing darauf festlegen wollte.

Nachdenklich verliess er das Atelier. Als er schon einige Schritte im Garten gegangen war, blieb er abrupt stehen, wandte sich um und sah, dass auch Filbing hinausgetreten war und die Ateliertür abschliessen wollte. "Einen Moment, ich habe etwas vergessen", rief Wolf dem Kunsthändler zu und ging ins Atelier zurück. Dort ergriff er, nach kurzem Zögern, ein kleines blaues Schlüsseletui, auf dem der Eiffelturm in roter Farbe abgebildet war; er hatte es vorhin auf diesem Tischchen entdeckt und liess es nun in seiner Tasche verschwinden. Den Kunsthändler, der bei der Tür stehengeblieben war und Wolfs Verrichtung kaum bemerkt hatte, fragte er beim Hinausgehen: "Vermissen Sie ein Schlüsseletui?" Filbing verneinte.

Wieder im Garten, hörte Wolf aus der Ferne ein leises, regelmässiges Knirschen. Es waren offensichtlich die Schritte eines älteren Menschen, der sich auf einem Kiesweg näherte. Als dieser um die Ecke in den Hauptweg einbog, sah Wolf eine dürre, leicht gekrümmte Gestalt auf sich zukommen. Es war Beat Leier, Kühns Gärtner.

"Guten Abend", sagte Wolf freundlich.

"Nabend", krächzte der Gärtner. "Ist jemand im Atelier?"

"Herr Filbing war da", antwortete Wolf. "Er schleppte Bilder weg..."

"So." Leier starrte zum Atelierhaus. Dort fuhr Filbings Camion soeben weg. 

"Sachen passieren", murmelte der alte Mann. Kopfschüttelnd schlurpte er zum Gärtnerhaus zurück.

Wolf wollte ihm zuerst folgen, um mit ihm über Thereses Einlieferung in die Klinik zu reden. Doch dann liess er es bleiben. Er beschloss, nach Hause zu gehen. Er fühlte sich auf einmal müde.

 

Siebtes Kapitel

Am nächsten Morgen, es war Freitag, und Wolf hatte immer noch Ferien, wurde der Journalist durch einen Telefonanruf geweckt. Als er den Hörer ans Ohr hielt, vernahm er Isabelles Stimme.

"Schläfst du noch?"

"Wie du hörst, nein. Du hast mich geweckt - welche Zeit ist denn?"

"Neun Uhr", meldete Isabelle.

"Nicht einmal in den Ferien kann man ausschlafen..."

"Entschuldige, ich wusste nicht, dass du ein Langschläfer bist."

Blinzelnd forschte Wolf nach den Sonnenstrahlen, die zwischen den Vorhängen durchs Fenster drangen. Bei dieser Gelegenheit bemerkte er, dass seine Kapuzinerkresse verdorrt war.

"Hast du dich von gestern erholt?" hörte er Isabelle fragen. Ihr Spott entging ihm nicht.

"Erholt?", fragte er und bezog ihre Frage auf seinen Besuch bei Theres Kühn. Doch dann fiel ihm ein, dass Isabelle davon nichts wissen konnte. "Ich war gestern abend bei den Kühns draussen.  Schrecklich! Ich fand Theres halb tot im Bett; der Arzt, den ich herbeigerufen hatte, diagnostizierte eine Überdosis Drogen."

"Heroin", sagte Isabelle.

"Heroin - tatsächlich! Wie du das so sagst... Der Arzt vermutete es auch."

"Und Kühn? Was sagte er? Hast du ihn gesehen?"

"Uz? Der war nirgends - der ist verschollen!"

Wolf fühlte sich plötzlich hellwach. 

"Aber Rico Filbing habe ich gesehen", sagte er, " ein merkwürdiger Vogel. Er schaffte dutzendweise Bilder aus Kühns Atelier. Angeblich hat ihn Uz damit beauftragt. Das Ganze kam mir suspekt vor...

"Mir schon lange."

"Wie bitte?"

"Es ist schon lange suspekt, meine ich", sagte Isabelle.

"Wie meinst du das?"

"Ach, dieser Kühn, sein Opferlamm Theres, dieser obskure Filbing, die blasierten und obskuren Gäste, die in dem Haus ein- und ausgehen...das Ganze ist doch dégoutant!"

Wolf wusste nicht recht, was antworten. Einen Augenblick lang fühlte er sich persönlich betroffen - er gehörte ja lange Zeit auch zu Kühns Gästen, auch wenn er sich mit manchen Leuten, die dort verkehrten, nicht identifizieren mochte.

"Du gingst doch früher bei Kühn auch wacker ein und aus", sagte er.

"Nicht allzu lange", meinte Isabelle. Und dann: "Wollen wir zusammen frühstücken, bevor ich abreise?"

"Du verlässt uns schon wieder? Wann? Noch heute?"

"Ja".

"Eigentlich wollte ich heute morgen nochmals zu Kühns Haus."

"Soll ich mitkommen?"

"Gern, in einer halben Stunde bin ich geduscht und rasiert. Komm doch direkt dorthin. Wir treffen uns in Kühns Garten, vor dem Eingang der Villa."

 

In zwanzig Minuten bestieg er in der Nähe der Strasse, wo er wohnte, ein Taxi. Zehn Minuten später betrat er Kühns Garten.

In der hellen Morgensonne wirkte er freundlicher als gestern abend. Die Schatten waren kürzer, und das Blättergrün der Bäume und Sträucher versetzte Wolf in eine heitere Stimmung. Auch die Villa sah von der Sonne beschienen heiter, geradezu festlich aus.

 

Isabelle war offenbar noch nicht eingetroffen; vor dem Haus sah er sich vergeblich nach ihr um. Nach etwa fünf Minuten hörte er draussen vor dem Garten ein Auto anhalten, und kurz darauf konnte er beobachten, wie die Erwartete um die Ecke kam. Sie hatte den Kiesweg verlassen, um über den Rasen eine Abkürzung einzuschlagen. Nun sah er sie zwischen den Büschen und Bäumen auf eine Böschung steigen - doch plötzlich hörte er einen Schrei... Isabelle war verschwunden! Ungläubig starrte Wolf in jene Richtung, wo er sie noch vor einigen Sekunden über den Rasen schreiten sah - und jetzt bot sich ihm ein merkwürdiges Bild:

Zuerst erschien ein Schuh auf der Böschung, dann Isabelles Tasche, eine Hand, und schliesslich sah er ihren Kopf aus der Erde ragen.

Er rannte ihr entgegen. "Was ist denn?", fragte er, "was ist passiert?"

Sie stand bereits wieder auf dem Rasen. Energisch wischte sie sich Erde vom Sommerrock.

"Eine Fallgrube!", schimpfte sie.

"Eine Fallgrube?" Wolf staunte.

"Hier, ein Loch! Da bin ich reingefallen!"

Jetzt sah er es auch: Ein vielleicht ein Meter breiter und doppelt so langer Graben klaffte in der Wiese. Darüber hatte jemand frische Aeste mit grünem Laub gelegt, die nun zum Teil durch Isabelles Fall eingeknickt waren. Merkwürdigerweise konnte Wolf,  obwohl die Grube frisch aussah, in der Nähe keinen Haufen mit ausgehobener Erde entdecken; ein Umstand, der ihm zu denken gab.

"Eigenartig", murmelte er und stützte Isabelles linken Arm, damit sie sich den abgefallenen Schuh anziehen konnte. Der Sturz hatte ihr offensichtlich zugesetzt; sie wirkte aufgewühlt. Ihr Arm zitterte spürbar.

"Bist du verletzt?", fragte Wolf.

"Ich spüre nichts", sagte Isabelle; "es ist der Schreck, zum Teufel. Was machen wir jetzt?"

"Wir gehen zu Herrn Leier - du kennst ihn vermutlich, er wohnt dort im Gärtnerhaus. Ich möchte mit ihm wegen Kühn reden, vielleicht weiss er, wo der steckt. Komisch, heute ist die Villa wieder abgeschlossen - gestern abend noch stand sie sperrangelweit offen."

Bevor er mit Isabelle zum Gärtnerhaus ging, ordnete er die Aeste so gut es ging über der Grube.

(.....)

 

Neuntes Kapitel

Nachdem Wolf die Haustür abgeschlossen hatte, vermied er es, direkt zum Gärtnerhaus zurückzukehren. Er schlug den Weg ein, der hinter die Villa führte. Als er vorhin im Garten das Paar getroffen hatte, war ihm etwas aufgefallen, was er jetzt in Ruhe studieren wollte: Durch den Lattenverschlag des Schopfes, der hinter der Villa stand, hatte er zwei Schubkarren entdeckt, in welchen er frische Erde zu sehen geglaubt hatte.

Als er nun nochmals in das Dunkel des Schopfes spähte, schien sich sein erster Eindruck zu bestätigen. Da er aber immer noch nicht ganz sicher war, öffnete er die mit einem eingeschobenen Holzriegel verrammelte Tür. Tatsächlich: Da standen zwei Schubkarren, beide angefüllt mit offenbar frisch ausgehobener Erde. Natürlich dachte Wolf sofort an die geheimnisvolle Grube, in welche Isabelle vor einer halben Stunde gestürzt war, und als er die im tiefen Schatten sich abzeichnenden übrigen Gegenstände  zu erkennen versuchte, blieb sein Blick an einem Ding haften, das ihn mit Unbehagen erfüllte. Seine Abwehr, über deren konkrete Ursache er sich in diesem Augenblick noch keineswegs im klaren war, führte dazu, dass er einen Schritt zurückwich - aber gleichzeitig beugte er sich vor und sperrte angestrengt die Augen auf.

Da hing ein beschuhter Fuss unter einem groben Sacktuch hervor, das einen ungleichförmigen, länglichen Gegenstand bedeckte, der sich etwa einen halben Meter vom Boden abhob.

Wolf trat hinzu und hob das Tuch mit einer heftigen Bewegung zur Seite.

Im Schummerlicht des Schopfes, an das er sich inzwischen gewöhnt hatte, zeichneten sich die Umrisse eines menschlichen Körpers ab, der in einen Schubkarren gepresst schien. Wolf starrte auf ein aufgedunsen fahles Gesicht, dessen linke obere Stirnseite von einem in den Schopf dringenden Sonnenstrahl erhellt wurde.

Nachdem er die Leichenfratze einige Sekunden lang betrachtet hatte, warf er das Sacktuch über den leblosen Körper zurück und hastete hinaus. Es schien ihm wichtig, dass er hier niemandem begegnete. Die Tür verriegelte er. Nun rannte er, so schnell er konnte, auf dem Weg, auf welchem er gekommen war, um die Villa herum. Er war bestrebt, möglichst viel Zeit zu gewinnen, um ungesehen zum Vordereingang der Villa zu gelangen. Von dort aus wollte er zum Gärtnerhaus zurückkehren.

Vor dem grossen Haus setzte er sich aber auf die Eingangstreppe, um seinen Atem zu beruhigen und das Erlebte zu überdenken. Die Leiche musste schon einige Tage alt sein; ihr Gesicht und die Hände hatten verdächtig entstellt gewirkt. Zudem hatte sie einen penetranten, fauligen Geruch ausgeströmt. Schon als er zum erstenmal am Schopf vorbeigegangen war, hatte er den Gestank wahrgenonmmen, der sich mit dem Duft der Blumen im Garten vermischte. Wolf hatte vorerst die Ausdünstung einer ihm unbekannten Pflanze oder eines Düngers vermutet. Später dachte er, dass irgendwo im Gebüsch eine Tierleiche liegen könnte. Mit dem hier hatte er nicht gerechnet.

Es war nun höchste Zeit, zum Gärtnerhaus aufzubrechen. Er hielt es für klüger, seine Entdeckung vorläufig für sich zu behalten und keinen Verdacht durch allzu langes Fortbleiben zu wecken. Als er aufs kleine Gebäude zuschritt, gewahrte er, dass ihn Beat Leier und Isabelle bereits ungeduldig erwarteten.

Sie hatten es in Leiers Zimmer nicht länger ausgehalten und standen unruhig vor dem Haus. Wolf musste sich überwinden, um sich seine Aufregung nicht anmerken zu lassen.

(.....)

 

Vierzehntes Kapitel

(.....) Wolf ging ins Restaurant zurück, zum Telefon. Die Aerztin hatte die Information eingeholt. "Der erste Tote, der heute morgen  eingeliefert wurde, ist eine männliche Leiche", berichtete sie; "der Mann ist an einem sehr schnell wirkenden Gift gestorben, das er in Wein aufgelöst zu sich genommen hat. Die Dosis war gering, nur wenige Milligramm, aber sie genügte. Er starb innert weniger Sekunden infolge Atemlähmung. Vermutlich trat der Tod noch gestern kurz vor Mitternacht ein..."

"Und der zweite Tote?", fragte Wolf gespannt. Es war ihm klar, dass die ältere Leiche, jene von Kühn, einige Stunden später im Institut eingetroffen war als die frischere von Filbing.

"Die Obduktion ist noch im Gang", sagte die Aerztin, "aber es lässt sich schon so viel sagen, dass diese - übrigens ebenfalls männliche - Leiche einige Tage alt ist. Bei der Einlieferung befand sie sich in fortgeschrittenem Fäulniszustand, dies natürlich auch wegen des warmen Wetters. Die Totenstarre war schon weitgehend gelöst."

"Die Todesursache?"

"Die gleiche wie bei der ersten Leiche. Schnelle Atemlähmung, dieselbe geringe Dosis des selben starken Giftes, das noch genau eruiert werden muss. Ebenfalls in Wein gelöst."

"Käme Selbstmord in Frage?"

Wolf hörte die Aerztin laut auflachen. "Spielst du Detektiv?", meinte sie gutmütig. Dann, auf seine Frage eingehend:

"Das müssen nicht wir feststellen, da wir in diesen Fällen keine Verletzungen durch äussere Gewaltanwendung nachweisen können. Da müsstest du dich schon an die Kriminalpolizei wenden, oder vielleicht an einen Psychiater..."

Gelöst verliess Wolf das Restaurationsgebäude. Jetzt schien bewiesen, dass Kühn und Filbing durch die genau gleiche Weise vergiftet worden waren. Drängte diese Feststellung nicht die Folgerung auf, dass nur noch nach einem einzigen Mörder gesucht werden musste? Damit schien auch endlich klargestellt, dass  Beat Leier, den Karren verhaften liess, als Täter überhaupt nicht mehr in Frage kam: Er hatte für die Nacht, in der Filbing ermordet worden war, ein einwandfreies Alibi, und Theres Kühn befand sich zu jener Zeit sowieso bereits in der Klinik. Der Mörder ging also, wie es Wolf immer geahnt hatte, nach wie vor frei herum!

Als der Journalist am Spielplatz vorbeikam, winkte er Anita Leier fröhlich zu. Die junge Frau nickte zurück. Ihr Gesicht hatte, wie ihm jetzt auffiel, immer noch den ernsten, besorgten Ausdruck, was seine heitere Laune dämpfte. (.....)

 

Fünfzehntes Kapitel

Als er eine halbe Stunde später im Stadtinnern, auf dem Barfüsserplatz, stand, fragte sich Wolf, ob er schon nach Hause gehen sollte. Dort lockte ein interessantes Fernseh-Programm. Unter anderem war ein französischer Spielfilm angekündigt, in dem Wolf Françoise Hézard in einer Nebenrolle vermutete. Aber vorerst verspürte er Lust, sich unter wirkliche Menschen zu setzen und ein Bier zu trinken. Von den drei Möglichkeiten, die er dabei erwog (Boulevard-Café vor dem Stadtcasino, Kunsthalle-Garten oder seine frühere Stamm-Bar beim Barfüsserplatz) entschied er sich für die Bar. Noch als er auf das Lokal zusteuerte, wunderte er sich über seine Wahl - denn er war sonst ein Mensch, der sich im Zweifelsfall stets für den Aufenthalt an frischer Luft entschied.  (In der Redaktion beschwerten sich Kollegen und Sekretärinnen, die sein Büro betraten, seit Jahren vergeblich darüber, dass er sogar bei kaltem Winterwetter seine Bürofenster stundenlang sperrangelweit offen liess. Nur der Verlagsdirektor hatte dagegen nichts einzuwenden, weil Wolf dabei, um keine Energie zu verschwenden, die Heizung abstellte und in Wolljacke und Schal zu arbeiten pflegte.)

Als er das wegen des schönen und immer noch warmen Sommerabends nur dürftig besuchte Lokal betrat, fühlte er aber, dass sein Entscheid richtig war. Er setzte sich an die Theke und bestellte ein Bier.

Die Frau, die es ihm einschenkte, trug eine blutrote Bluse mit weitem Décolleté; ihr mächtiger Busen, den Spuren sanfter Welknis zeichneten, erinnerte ihn an verwitterte Skulpturen von Fruchtbarkeitsgöttinnen vorchristlicher Zeiten.

Er war dieser Barfrau schon früher begegnet, irgendwo, vermutlich an einer anderen Theke, vor vielen Jahren, als er noch Student gewesen war... Ihr ursprünglich differenziert suchender Ausdruck war jener lächelnder Resignation gewichen.

Jetzt überwältigte Wolf sekundenkurz eine Vision, die ihn erst recht verwirrte: Im Hintergrund des Lokals, in einer Nische, die vom künstlichen Licht nur unwirklich beleuchtet schien, zeichneten sich mit erschreckender Deutlichkeit die Umrisse des Gesichts von Uz Kühn ab. Eine bange Sekunde lang spürte der Journalist, wie das Klopfen seines Herzens ausblieb. Die Bardame schien sein Entsetzen bemerkt zu haben. Sie wandte sich zu jener Nische, in welcher Wolf die rätselhafte Erscheinung wahrgenommen hatte. Sie fragte laut:

"Willst du noch ein Bier, Roger?"

Erleichtert stellte Wolf fest, dass er einer Täuschung verfallen war: Kühns Gesichtszüge verwandelten sich in jene eines gewöhnlichen, ihm unbekannten Gastes, der dort hinten hockte und der Bardame mit "Ja, Regine, noch einen Becher!" antwortete. Mit einem leicht amüsierten Staunen gewahrte der Journalist, dass dieser Kerl nun sogar flüchtig Filbing glich!

Wolf atmete auf. Was war nur mit ihm los? Hatten ihm die Ereignisse der letzten Tage derart zugesetzt, dass er Gespenster sah? War er krank?

Er erinnerte sich an eine Begegnung, die Jahre zurücklag. Er hatte ebenfalls an dieser Theke gesessen. Und genau an jener Stelle, wo der Mann hockte, den er vorhin mit Uz Kühn verwechselte, hatte er  Kühn wirklich gesehen. Neben dem Maler hatte damals Isabelle gesessen. Das war, kurz bevor Isabelle nach Rom verschwunden war, vor sechs Jahren.

Isabelle?!

Kühn bezahlte sein Bier und verliess die Bar.

Als er zuhause in seiner Wohnung anlangte, wusste er, dass er morgen früh nach Paris reisen würde.

Françoise - Filbing - Isabelle - Kühn ... waren das nicht die Zusammenhänge, nach denen er so krampfhaft gesucht hatte und die er übersehen, verdrängen, nicht wahrhaben wollte?

Die Spur des Mörders musste nach Paris führen, zu Françoise, zu Isabelle!? Die beiden Frauen mussten über die Ermordeten mehr wissen als der findigste Untersuchungsbeamte. Das war eine Spur, die Karren verborgen blieb.

 

Sechzehntes Kapitel

Als Wolf frühmorgens   - es war ein Samstag - den Zug nach Paris bestieg, begann für ihn die Fahrt ins Ungewisse. Jetzt liess er sich nicht durch den Verstand, sondern durch seinen Instinkt leiten, auf den er sich als Jounalist so oft stützte, wenn es darum ging, verborgenen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen. Und so nahm er es sogar bewusst auf sich, unkorrekt zu handeln. War es nicht dreist, das blaue Schlüsseletui, das er im Atelier des Malers gefunden hatte, statt der Kriminalpolizei anzuvertrauen mit sich herumzutragen? Entführte er nicht das möglicherweise einzige Beweisstück, das den Mörder hätte überführen können?

Aber am nächsten Montagmorgen hatte er sich in Basel mit dem Kriminalkommissar Karren, seinem früheren Schulfreund, verabredet, und da könnte er vieles klären. Bis dann würde er, so hoffte er, auch viel mehr über Françoise Hézard und ihre rätselhafte Beziehung zu Filbing erfahren haben - und über die Beziehung zwischen Isabelle Raben und Uz Kühn. Wieso misstraute er Françoise? Nur weil sie am Donnerstagmorgen in Basel Filbing getroffen hatte? Dieser Mann war keine 24 Stunden später tot - an der gleichen Ursache gestorben wie wenige Tage zuvor Kühn, dem Françoise früher Modell gestanden war... Und Isabelle? Warum war sie überhaupt nach Basel gekommen, in die Mordgeschichte hineingeplatzt? Auch sie kannte Uz Kühn, und Theres, wie übrigens auch Françoise, von früher her... Gingen seine Gedanken wieder einmal im Kreis herum?

Während der Fahrt durchs Elsass begann Wolf sein Vorgehen, das auf düsteren Ahnungen beruhte, erneut in Frage zu stellen. Nun sah er sich plötzlich als einen wirren und vielleicht sogar schon irren Mann, der seit einigen Tagen beschäftigt war, durch halb Europa zu reisen und überall, wo er hin kam - in Rom, Basel, Paris - Menschen zu begegnen, die in einem geheimnisvollen Zusammenhang mit dem Tod seines Bekannten Kühn und dessen Hausfreund Filbing verwickelt schienen...

Litt er an Verfolgungswahn, war er vielleicht übergeschnappt? Oder hatte er sich einfach verrannt - weil er die wirklichen Zusammenhänge nicht erkannte, nicht kennen konnte?

Vorläufig wollte er nicht weitergrübeln. Er betastete  die Brusttasche seines frischen Hemdes, das er heute morgen übergestreift hatte. Darin fühlte er das kleine blaue Etui, auf welchem das Wahrzeichen von Paris rot schimmerte und in dem sich zwei Schlüssel befanden - der Fund aus Kühns Atelier, sein Geheimnis, an das er sich klammerte.  Ein Besucher, eine Besucherin aus Paris war in Kühns Atelier gewesen, hatte dort die Schlüssel verlegt, sie vielleicht später verzweifelt, weil vergeblich gesucht, phantasierte Wolf...

Ausser dem Futteral mit den Schlüsseln betastete er Françoise Visitenkarte, die er ebenfalls eingesteckt hatte, und  ausserdem ein kleines, zerknittertes Stück Papier, auf das er Isabelles Adresse gekritzelt hatte. Er fühlte sich gut gerüstet. Gelassen wollte er jetzt abwarten, was ihm seine geplanten Erkundungen in der Stadt an der Seine bescheren würden.

(.....)

 

Neunzehntes Kapitel

(.....) Als Wolf das Büro des Chefredaktors verliess, konnte er ein Lächeln nicht unterdrücken. Springinsfelds Eitelkeit liess es nicht zu, auf die Veröffentlichung des Fotos zu verzichten, das ihn zusammen mit einem Regierungsrat und einer internationalen Bankgrösse am Begräbnis des Heroinhändlers zeigte...

Der Nachmittag verstrich im Nu. Als Wolf seine Arbeit beendete, war schon bald sieben Uhr. In einem Taxi jagte er zum chinesischen Restaurant, wo er mit Hans Karren bereits auf halb sieben abgemacht hatte. Als er sich im Restaurant an den reservierten Zweiertisch führen liess, erfuhr er vom Kellner, dass sich auch Karren verspätet habe. Wolf wartete etwa zehn Minuten, und dann bestellte er schon einmal das Getränk und eine Haifischflossensuppe, um nicht tatenlos herumsitzen zu müssen. Nachdem er die heisse Brühe, an der er sich vorerst die Zunge verbrannte, etwas abgekühlt hatte, verspeiste er sie vorsichtig. Von Karren war noch nichts zu sehen.

Wolfs Geduld liess sich strapazieren. Er sagte sich, dass ein unvorgesehener Zwischenfall einen Kriminalkommissar von der Einhaltung eines Termins ebenso gut abhalten könne wie beispielsweise einen Journalisten. Aber halb acht Uhr war jetzt vorbei; vor über einer Stunde hatte er sich mit ihm treffen wollen. Was Wolf ärgerte, war nicht einmal die enorme Verspätung des Kommissars, die zwingende Gründe haben mochte, sondern die Tatsache, dass Karren ihn darüber nicht verständigt hatte. Ob er es einfach vergessen hatte? Oder ob er das Gespräch mit ihm für den weiteren Verlauf der Untersuchung für unwesentlich hielt, was natürlich eine grobe Fehleinschätzung war, wie Wolf seit gestern wusste? Der alte Groll, der dem Journalisten schon vor drei Tagen aufgestiegen war, nachdem Karren Beat Leier hatte verhaften lassen, überwältigte ihn für einen Augenblick. Doch diesmal war er nicht mit einem Ohnmachtsgefühl vermischt. Er empfand im Gegenteil mächtigen Triumph. Wolf war sicher, dass er im Augenblick der einzige war, der die Mordfälle Kühn und Filbing bis fast ins hinterste Detail kannte und begriff - ausser Isabelle natürlich. Da war es von Karren schlicht töricht, auf das Treffen mit ihm zu verzichten, seine Zuständigkeit in dieser Sache zu ignorieren. Ob er vielleicht seinen Fehlentscheid bezüglich von Leiers Verhaftung als Blamage empfand, sie Wolf nicht eingestehen mochte und sich deshalb vor einer Begegnung mit ihm drückte? Aber dann hätte er sich doch eine Entschuldigung ausgedacht und ihn rechtzeitig benachrichtigt!

Wolf sann diesen Möglichkeiten nach. Er überlegte, ob er versuchen solle, Karren in seinem Büro oder zuhause zu erreichen, um herauszufinden, ob ein längeres Ausharren überhaupt sinnvoll sei. Aber da wurden auch schon die weiteren Speisen aufgetragen, die er schliesslich bestellt hatte, um die Wartezeit zu verkürzen. Noch bevor er sich anschickte, sich über sie herzumachen, ging er zur Telefonkabine, um Karren anzurufen. Er wählte seine private Nummer.

Die Frauenstimme, die sich meldete, gehörte offenbar Frau Karren. Sie wirkte aufgelöst, in einer erschreckenden Weise verzweifelt. Schliesslich gewahrte er, dass Frau Karren heftig schluchzte.

"Hans ist tot", sagte sie, und dann nochmals: "Hans ist tot, er ist tot, sie haben ihn gefunden."

Dann war Stille. Hierauf meldete sich eine Männerstimme:

"Wer ist da?"

"Wolf",  antwortete Wolf, "Louis Wolf. Was ist los, um Himmels Willen? Ich habe mich mit Herrn Karren verabredet, um halb sieben. Jetzt ist  bald acht;  da dachte ich, ich rufe einmal an..."

"Herr Karren ist tot aufgefunden worden", sagte die Männerstimme; sie gehörte offenbar einem Beamten, einem Kollegen von Karren: "Um fünf Uhr ist er an der Bar im Stadtcasino zusammengebrochen. Es muss eine unbekannte Frau bei ihm gewesen sein; sie ist spurlos verschwunden. Wir schicken allen Zeitungen, auch Ihnen, ein Signalement dieser Frau. Wir werden es Ihnen noch heute nacht zustellen. Hören Sie, könnten Sie morgen aufs Kommissariat kommen?"

"Wann?", brachte Wolf hervor.

"So früh als möglich. Vielleicht um acht? Würde das gehen?"

"Das geht. Um acht bei Ihnen - bei wem?"

"Im Kriminalkommissariat bei Paul Eber. Wir müssen Ihnen einige Fragen stellen."

"Ist gut", hörte sich Wolf sagen, "je schneller desto besser."

Als er an seinen Tisch zurückkehrte, starrte er verständnislos auf die in verschiedenen Schüsseln auf ihn wartenden Speisen. Die Nachricht von Karrens Tod hatte ihm den Appetit verschlagen.

(.....)

Der Roman "Die Münzkönigin steht Kopf", aus dem hier Auszüge wiedergegeben sind, entstand 1978. Das  Copyright befindet sich beim Autor Felix Feigenwinter.

1978 erschien der Roman im Mond-Buch Verlag Basel. 1981 wurde er in der Basellandschaftlichen Zeitung als Fortsetzungsgeschichte veröffentlicht.