Ein Schweizer am Meer

Von Felix Feigenwinter

 

"Ich bin ein verunsicherter Schweizer. Meine Verunsicherung hat persönliche, keine politischen Gründe", bemerkt ein in einem Eisenbahnzug nach Holland Reisender zu einer Dame, die sich in Köln auf einem reservierten Platz neben ihm niedergelassen hat und ihn in ein Gespräch verwickelt.

"Sind Sie vielleicht geschieden?" forscht die Dame.

"Nein, ich bin Witwer" antwortet der Mann; "aber ich leide unter Atemnot, sobald ich die Höhe von zirka 1800 Metern über Meer übersteige. Wie kann einer ein senkrechter Eidgenosse sein, wenn er sich schon nach zwei, drei Tagen Aufenthalts in den Bergen von einem Sauerstoffkollaps bedroht fühlt? Ist einer ein hundertprozentiger Schweizer, wenn es ihm elend und schwindlig wird, er wie ein Fisch auf dem Trockenen nach Luft zu schnappen beginnt, sobald er die hehre Alpenwelt betritt? Ein solcher Mensch sitzt neben Ihnen; ich bin ein Mann, der das Leben im Gebirge schlecht verträgt! Zum Glück wohne ich in der Tiefe, unten in Basel, am Dreiländereck am Rheinknie."

"Und jetzt reisen Sie in die Sommerfrische?" vermutet die Frau.

"Ich fahre zum Meer hinunter, zur Nordsee, wo ich meine Ferien verbringen möchte."

"Können Sie wenigstens jodeln?" fragt nun die Reisebekanntschaft und lacht; Humor scheint ihr nicht fremd zu sein. 

"Nein" bekennt der Eidgenosse, "ich blase auch kein Alphorn."

Abends sieht er die Frau wieder, und er wundert sich, dass sie sich ebenfalls an diesem Ferienort aufhält, wo er in einem Dreisternhotel logiert, denn vor dem Umsteigen im Amsterdamer Bahnhof hatte er sich von ihr verabschiedet in der Meinung, er würde ihr nie mehr begegnen. Nun vereinbaren sie in ihrer Ueberraschung, gemeinsam zu essen. Sie setzen sich draussen vor ein kleines Spezialitätenrestaurant, bestellen Fisch und Bier. Die Deutsche erklärt, sie spüre eine furchtbare Deutschenfeindlichkeit vieler Holländer, was Jahrzehnte nach dem Kriegsende doch kaum mehr verständlich sei. Später stösst der inzwischen vielleicht schon ein wenig betrunkene Schweizer sein Bierglas derart heftig an jenes der Deutschen, dass das Glas der Dame in Brüche geht.

Am nächsten Tag - es ist nun später Morgen, das üppige Frühstück im Dreisternhotel hat er massvoll genossen - sitzt der Schweizer, der auch Schweizer heisst, Köbi Schweizer, keine fünfzig Meter über Meer in einem Buchenwäldchen allein auf einer grünen Bank und staunt auf ein offenbar stilles braunes Gewässer, das sich bei günstigem Lichteinfall in einen glasklaren Spiegel verwandelt, wo sich die Baumkronen unter dem hellen Himmelblau erstaunlich deutlich spiegeln. Dass das stille, dunkle, von Zeit zu Zeit heiter aufleuchtende Gewässer nicht tot ist, wie es zuerst den Anschein erweckte, beweisen dem Feriengast ein Schwarm kleiner, dunkler Fische - sie erinnern ihn an Kaulquappen, so winzig sind sie - , die knapp unter der Wasseroberfläche herumtanzen. Die Spiele des Lichts und der von Zeit zu Zeit durchs Buchenwäldchen huschende Wind sorgen für die Belebung des nicht fliessenden Kanals.

Herr Schweizer erhebt sich von der grünen Bank, schwingt sich aufs gemietete Fahrrad, das er auf den sandigen Waldboden gestellt hatte, und fährt aus dem Buchenwäldchen, in dem auch einige wenige knorrige Eichen stehen. Ein Radfahrerweg führt entlang einer Autostrasse durch die von Nadelholz gesäumten Dünen hinunter zum Meer.

Den ganzen Nachmittag verbringt der Mann nun am Strand, wo er in einem Strandkorb döst, ein wenig dem Meer entlang spaziert, sich später auf ein mitgenommenes Badetuch legt, die weissen, meergrauen und sandbraunen kleinen und grossen Möven beobachtet, die durch den Sand stelzen und wie Hühner nach Futter picken, und schliesslich in einem der Strandpavillons mit Zwiebeln und Gurkenscheiben garnierte Matjiesheringe isst. Gegen Abend wandert er barfuss dem Meer entlang, den unaufhörlichen Rhythmus des Wellenrauschens im Ohr; den Wind, der die brühende Sonnenhitze zerpflügt, empfindet Herr Schweizer als zärtliche Liebkosung auf seiner Haut. Irgendwann kehrt er um, um seine Sachen im Strandkorb und das in der Nähe des Meers abgestellte Mietvelo sicherzustellen; staunend erlebt er, wie der glitzernde und funkelnde Schleier, den das Sonnenlicht übers Meer geworfen hatte, zu einem schmalen, leuchtenden Teppich zusammengezogen wird, der sich bald zu einer flimmernden Sonnentreppe verwandelt, die schliesslich ganz verschwindet. Die Sonne errötet zusehends, wird zu einem orangenen Lampion; dann beginnt sie, am Horizont zu versinken. Der Himmel verfärbt sich rosa und lila, dunkelt ein, die am Strand sich tummelnden Menschen, Hunde und Pferde erscheinen als scharfe, dunkle Silhouetten vor dem schon matter leuchtenden, aber immer noch hellen Meer - Schattenrisse, die ein uraltes Naturschauspiel feiern. Am Himmel übernimmt der vorher fast unscheinbare, weil blasse Mond die Ablösung: er beginnt sich zu verfärben, erregt mit warmem Gelb neue Aufmerksamkeit. Die Flut hat die Ebbe abgelöst.

Am darauffolgenden Tag schreibt Herr Schweizer nach dem Frühstück im Hotel seinen zu Hause gebliebenen Arbeitskolleginnen und -kollegen. Er notiert auf die Rückseite einer Ansichtskarte, auf der ein etwas kitschig aussehender Sonnenuntergang am Meer abgebildet ist: "Der Aufenthalt am Meer ist für mich ein wahres Antidepressivum. Ich hoffe, es reicht für mich aus, das Büroleben in der Schweiz für ein weiteres Jahr durchzustehen."

Anschliessend unternimmt er eine lange Velofahrt in eine entfernt liegende Stadt, wo er ein Museum besucht; erst nach Einbruch der Dunkelheit kehrt er in seinen Ferienort zum Hotel zurück. Frohen Sinnes denkt er, über genügend Ferientage zu verfügen, um den Sonnenuntergang am Meer noch mehrere Male zu erleben.

Doch am nächsten Morgen ist der Himmel bedeckt; ein diesiger Nebel hängt über dem Strand, zu dem Herr Schweizer gleich nach dem Frühstück radelt. Es ist kühl geworden. Trotzdem bleibt er am Meer, watet stundenlang durch den Sand, hofft, die Sonne würde sich im Verlauf des Nachmittags doch noch zeigen. Statt dessen hebt ein Sturm an, der, je näher der Abend kommt, heftiger wird und zu einem Orkan anschwillt. Herr Schweizer rettet sich zitternd vor Nässe und Kälte in einen gedeckten Strandpavillon, von wo aus er das Unwetter verfolgt, entsetzt aufs tobende Meer starrt, dessen Sanftheit von vorgestern für alle Zeiten weggepustet scheint. Er bestellt eine Hühnersuppe, um Seele und Körper aufzuwärmen. Als ihm die flachsblonde Serviererin die dampfende Schale auf den Tisch stellt, seufzt er: "Ein Trost bei diesem grausigen Wetter!" Die Holländerin lacht, aber hinter seinem Rücken antwortet die kräftige Stimme einer anderen Frau: "Sie befinden sich hier nicht am lieblichen Rheinknie, Herr Schweizer. Sie erleben den wahren Charakter unserer Nordsee!" Der Schweizer denkt: das Basler Rheinknie ist nicht lieblich; es ist ruhig, kultiviert, ordentlich strukturiert, das wohl; der Strom ist gezähmt. Er wendet sich um und sieht am Tisch hinter sich eine Frau sitzen, die - halluziniert er? - ein zerbrochenes Bierglas in der rechten Hand hält und ihn ebenso vorwurfsvoll wie spöttisch zu mustern scheint. Er weicht der Herausforderung aus, wendet sich wieder seiner Suppe zu, die er hastig auslöffelt. Hierauf eilt er zur Theke und bittet die Holländerin, ein Taxi zu bestellen, das ihn und sein gemietetes Fahrrad zum Hotel zurückfahren soll.

Tags darauf - der schreckliche Sturm hat sich gelegt, aber am Himmel türmen sich düstere Wolken, und der Wind pfeift vom Meer her warnend übers platte Land - reist der Schweizer früher als geplant in sein geordnetes Binnenland zurück.   

 

(Geschrieben 1990)