Zwerg Julius und das Riesenfräulein
 
 
Wäre Adelheid Duvanel im Juli 1996 nicht durch Suizid aus dem Leben geschieden, wäre sie am 23. April 2006 siebzig Jahre alt geworden. Erinnerungen an das frühe Schaffen der späteren Luchterhand-Autorin, als sie in den Sechzigerjahren noch Texte für die "Basler Nachrichten" schrieb.
 
 
Von Felix Feigenwinter
 
 
Zu den bisher nie zwischen Buchdeckeln veröffentlichten Texten, die ich, der ältere Bruder der Schriftstellerin, aus meinem Privatarchiv dem schweizerischen Literaturarchiv übergeben habe, gehören neben privaten Briefen und journalistischen Auftragsarbeiten auch zahlreiche freie Feuilletons und Essays, in denen die depressive Poetin oft einen überraschend lebensfrohen, nicht selten satirischen Ton anschlägt; die Archivsammlung umfasst ausserdem einige seltsam skurrile und surreale Geschichten, die in den Sechzigerjahren zwar in den "Basler Nachrichten" unter dem Pseudonym Judith Januar abgedruckt wurden, seither aber - im Gegensatz zu anderen frühen Erzählungen - nie in Buchpublikationen aufgenommen wurden, auch nicht in die postum erschienenen Duvanel-Bände "Der letzte Frühlingstag" (1997, Luchterhand, München) und "Beim Hute meiner Mutter" (2004, Nagel & Kimche, Zürich).
 
Heldentat des "Abzeichenzwergs"
 
Einer dieser bisher unbeachtet gebliebenen Texte erschien am 24. Juni 1962 im "Sonntagsblatt" der "Basler Nachrichten" unter dem Titel "Der Held". Die Autorin entführt ihre Leser an die Peripherie eines imaginären Städtchens:
"Das Städtchen Bühel besass kein Denkmal, denn die Bürger waren nicht willens, einen Fremden zu ehren, und eigene Helden oder Künstler besassen sie nicht", ist schon im ersten Satz zu erfahren, und die junge Dichterin stellt eine ebenso verblüffende wie einleuchtende Einrichtung dieser Gemeinde vor:
"Alle klein- oder krummgewachsenen, übergrossen, gebrechlichen, kranken oder hässlichen Menschen des Städtchens hatten sich in die (übrigens heizbare) Höhle im Wald zurückgezogen, um den hochentwickelten Sinn für das Schöne und Praktische der Büheler nicht zu beleidigen. Sie flochten dort Körbchen, Blumenkörbchen und Brotkörbchen, taten auch anderes, um mit dem Dasein Zwiesprache zu halten. Der Zwerg Julius, auch `Abzeichenzwerg` genannt, weil er eine gewisse Aehnlichkeit mit dem an Weihnachten im Städtchen zugunsten `unserer lieben Höhlenbewohner` verkauften Abzeichenzwerg hatte, schnitt eines Abends, auf einer von seinem reichen Vater Emil geliehenen Leiter stehend, die sonderbaren Schwänze ab, die von der Decke der Höhle hingen, da sie ihn befremdeten, in höchstem Masse beunruhigten. Er vergrub sie am Waldrand, dann legte er sich schlafen und schnarchte mit dem Riesenfräulein Anna (das immer Zeltchen lutschte) und den andern um die Wette."
Die Geschichte entwickelt sich mit der Schilderung ungeheuerlicher nächtlicher Vorgänge. Das Wachsen eines Schwanzbaums aus der Erde, der "grösser als der Eiffelturm" war, "mächtiger als eine Stadt" zu werden drohte und "mit tausend blaugrünen Schwänzen die Luft" peitschte, liess die Büheler entsetzt herbeieilen, "in Nachtgewändern, mit vom Schlaf noch schweren Augen. Was sie erblickten, während der Mond still jodelnd zu seiner Morgenhütte wanderte, liess sie vor Grauen erzittern: Der Zwerg Julius trat mit geisterhaft bleichem Antlitz aus der Höhle, liess seine kaum vorhandenen Muskeln spielen und fällte den Baum mit wuchtigen Axthieben, so dass sich die Büheler nur mit flinken Sprüngen vor dem fallenden Stamm mit den hin und her zuckenden Schwänzen in Sicherheit bringen konnten." 
 
Das groteske Drama endet mit dem Tod des "Abzeichenzwergs", welcher, "der Anstrengung nicht gewachsen", tot zu Boden sinkt. Er wird feierlich beerdigt, "sein reicher Vetter Emil liess ihm ein Denkmal setzen, und so thront er, nicht mehr Zwerg, sondern überlebensgross, zu Stein geworden, eine Axt schwingend, vor den Toren des Städtchens und scheint auf das zeltchenlutschende Riesenfräulein Anna zu warten."
 
Mit dieser bemerkenswert unbefangen geschriebenen satirischen Parabel karikierte die junge Autorin nicht nur ein reales Konzept des gesellschaftlichen Umgangs mit Aussenseitern, sondern sie verdeutlichte auch schon früh das inhaltliche Programm ihrer Literatur, entwarf eine Nische für all die Zwerge, Riesenfräulein und anderen Sonderlinge, deren Befindlichkeiten und Lebenssituationen diese "Chronistin der Ausgestossenen" in ihrem künstlerischen Werk ein Schriftstellerleben lang beharrlich darstellte.
 
Brotlose Kunst
 
Die phantastischen Geschichten mit irrealem Szenario, bizarren Figuren und irrwitzigen Handlungen ermöglichten der jungen Dichterin selbstverständlich keine solide Grundlage für die Bestreitung ihres Lebensunterhalts, erwiesen sich aber zumindest als nützliche Uebungen für ihre späteren preisgekrönten Meisterwerke. Und das gelegentliche Erscheinen märchenhafter Parabeln im "Sonntagsblatt" der "Basler Nachrichten"  -  vorerst unter dem Pseudonym Judith Januar - weckte in der Basler Literaturwelt neugieriges Interesse und verhalfen der vielversprechenden Schriftstellerin   zu ersten Vorlesungen im lokalen Rahmen. (Bis Adelheid Duvanel - dank Otto F. Walter, der ihr den Kontakt zu Luchterhand vermittelte - den Zugang zur internationalen Literaturwelt fand, sollte es allerdings noch fast zwanzig Jahre dauern...)
 
Indessen verfasste die junge Poetin, die ihre materielle Existenz im übrigen auch immer wieder als temporär beschäftigte Bürolistin zu sichern versuchte, damals regelmässig durchaus rationale Texte: Einerseits arbeitete sie als freie Kulturjounalistin, schrieb Buchrezensionen und berichtete über Theateraufführungen und andere lokale kulturelle Anlässe, andererseits schrieb sie zu freigewählten Themen originelle Essays und Satiren, die ihr Förderer in der BN-Redaktion, Wolff-Windegg, gerne in den Spalten seiner Feuilleton-Seiten platzierte, boten sie der Leserschaft doch apartes Lesevergnügen.
 
"Eine Stunde Büro aufgegessen"
 
Nachdem Adelheid Duvanel im Frühjahr 1968 mit ihrem damaligen Ehemann, dem Kunstmaler Joseph E. Duvanel, und der damals vierjährigen Tochter nach Formentera ausgewandert war, hatte sie sich ein grosses Paket mit Büchern auf die Insel schicken lassen, da sie auf den Balearen weiterhin Bücher rezensieren wollte. Ihren Formentera-Aufenthalt, der keine zwei Jahre dauern sollte (verschiedener Umstände wegen viel kürzer, als ursprünglich beabsichtigt), schilderte sie in verschiedenen Erlebnisberichten, die sie als Briefe an die Eltern, aber auch in Form von Zeitungsartikeln an die "Basler Nachrichten" sandte. Auch die - ziemlich bittere - Rückkehr nach Basel hielt sie in einem Feuilleton fest, das am 10. September 1969 in den "Basler Nachrichten" abgedruckt wurde.
 
"Ich war längere Zeit abwesend", meldete sie sich ihrer Leserschaft zurück, "nun bin ich vor einer Woche vom Ausland zurückgekehrt und habe erledigt, was getan werden musste: Die Koffer ausgepackt, die schmutzige Wäsche gewaschen, die Wohnung geputzt, Einwohnerkontrolle, Telephon- und Postamt verständigt und drei Bekannte besucht. Nun sitze ich in der Wohnung; es ist kalt, vor meinem Fenster steht - das ist die Wahrheit, nicht einem tristen Roman entnommen -  eine graue Backsteinmauer, der Himmel drüber ist wie Eiweiss und die Wäsche auf dem Balkon hängt schlapp da, weil es nicht windet. Ich habe mir einen hässlichen Wecker gekauft (ich nehme an: hässlich, weil billig); er tickt, als ob jemand auf steifen Füsschen auf dem Tisch umherrennen würde. Ich muss nämlich jeden Morgen um sechs aufstehen, weil ich in einem Büro arbeite, das man nur erreichen kann, nachdem man verschiedene Prüfungen auf sich genommen, zum Beispiel als Fahrgast der Strassenbahn drei Verkehrsstockungen miterlebt hat, so kostbar ist dies Büro: ein Paradies, zugänglich nur dem Geduldigen, Opferwilligen. Ich fand blitzschnell eine Stelle, weil ich mich an eine Organisation wandte, die Arbeitskräfte vermietet. Die Organisation zeigte mir Lichtbilder, denen ich entnehmen konnte, dass durch sie vermietete weibliche Arbeitskräfte elegante Nylonstrümpfe, ebensolche Pumps, ein diskretes Make-up und eine von einem gewitzten Friseur mittels leichter Dauerwelle, Haartönung und -lack gefällig zurechtmodellierte Frisur aufweisen. Das Ganze kam mich etwas teuer zu stehen (die Haartönung hat gottseidank die südliche Sonne während des ganzen Sommers besorgt), doch ich hoffe, es macht sich bezahlt. Stundenlohn hat übrigens einen Nachteil; wenn ich mir in einem Restaurant ein mittelfeines Mittagessen leiste, fällt mir zwanghaft ein: `Nun hast du eine Stunde Büroarbeit (kalte Füsse, leere Wände, ein silbenschluckendes Diktaphon) aufgegessen.` Am Nachmittag habe ich frei, dann gehe ich als ich selber durch die Strassen; die Menschen scheinen es immer eilig zu haben, dazu machen sie Gesichter, als ob sie in rohe, hölzerne Rüben gebissen hätten; das stimmt mich nachdenklich. Sind sie nicht glücklich?"
 
Im selben Feuilleton bekannte sie: "Moderne Einrichtungen sind mir zuwider; Knöpfe drehen oder drücken und dann wie durch Zauberei heisses Wasser, warme Röhren, ein Bild von einem Kriegsschauplatz oder Musik in der Wohnung zu haben, dünkt mich unheimlich; es befremdet mich, denn ich kann es mir nicht erklären. Deshalb bin ich froh, in einer Altwohnung ohne Komfort wohnen zu dürfen; sie entspricht mir, sie überfordert mein Verständnis nicht. Ich kenne Steinzeitmenschen, die in modernsten Wohnungen hausen und frage mich, ob ihnen das nicht schadet; wie ertragen sie all die Unbegreiflichkeiten, die Wirklichkeit mit dem rätselhaften Gesicht? Vielleicht beten sie ihre Geschirrmaschmaschine heimlich an, weil sie in ihr einen Gott vermuten?"
 
Ihre "Zivilisationsphobie" relativierte sie allerdings sogleich:
"Ich bin aber nicht konsequent, denn ich wollte ins Kino gehen und besitze ein Telephon. Kaum bin ich wieder da, packt die Zivilisation, vor deren Griff ich geflohen war, meinen kleinen Finger..."
 
 
"Für den Tag" Geschriebenes
 
Eine zusätzlich unbehagliche Situation in ihrem ohnehin nicht leichten Leben entstand, als ihr generöser Förderer Philipp Wolff-Windegg sich in den Ruhestand zurückzog und dessen Nachfolger in der Redaktion der "Basler Nachrichten" sich an einer weiteren Mitarbeit der langjährigen treuen Honorarschreiberin nicht interessiert zeigte, sie schlichtweg ignorierte. In jener Krise war es für Adelheid Duvanel wohl hilfreich, vom Basler Gratisanzeiger "doppelstab", in dessen Redaktion ich damals wirkte, Aufträge zu erhalten. Nun schrieb sie wieder Berichte über Konzerte, Kindertheater, Gemäldeausstellungen und kreierte eine Bilder-Fortsetzungsgeschichte für Kinder. Als regelmässige Einnahmemöglichkeit hatte ich ihr zudem zwei Text-Rubriken eingerichtet, in denen sie sich im vorgegebenen Rahmen frei entfalten konnte. Die eine umfasste kleine Tiergeschichten auf der Seite "Das Tier und wir"; die andere bestand, unter dem Signettitel "Allzu Privates", aus einer langen Reihe von Alltagsfeuilletons. Alle diese Texte versah die Schriftstellerin, die wieder einmal, materieller Not gehorchend, nicht "für die Ewigkeit", sondern "für den Tag" schreiben musste, mit dem Pseudonym "Martina". Etwa neunzig Typoskripte mit "Martina"-Texten aus den Siebzigerjahren sind heute noch erhalten; ich gab sie ebenfalls in die Obhut des schweizerischen Literaturarchivs.