"doppelstab" 1965


Obdachlose, Eigenbrötler, Vertriebene

Von Felix Feigenwinter


Vor einigen Jahren richtete ein Basler Handwerksmeister - er möchte nicht, dass sein Name in der Zeitung steht - bei sich zu Hause eine private Herberge für Obdachlose ein. Er stellte ihnen 15 Wolldecken und Matratzen zur Verfügung. Aber eines Tages erschien ein Beamter des Sanitätsdepartementes. Kurz darauf wurde es dem sympathischen Idealisten verboten, weiterhin fremde Leute aufzunehmen. Der Handwerksmeister: "Das Sanitätsdepartement wurde auf mein 'Hospiz' wahrscheinlich aufmerksam, nachdem ich wegen eines Lungenkranken mein ganzes Heim hatte desinfizieren müssen. Ich konnte die Wolldecken, die ich meinen Gästen zur Verfügung stellte, natürlich nicht jede Woche auswechseln. Aber meine Schlafgänger zogen solche Decken weissen Leintüchern vor. Sie wussten, dass ich sie in Ruhe liess. Viele dieser Obdachlose erfrieren lieber im Schnee, als dass sie in einem 'offiziellen' Heim übernachten und dabei riskieren, der Polizei in die Quere zu kommen."

Wieso der Polizei?

"Viele Obdachlose sind bei der Einwohnerkontrolle nicht registriert, obwohl sie seit langem in Basel leben. Man kann sie wegen Landstreicherei verhaften."
 

Wie mein Gesprächspartner auf die Obdachlosen aufmerksam wurde?
 

"Eines nachts weckte mich meine Frau. Sie sagte, im Hinterhof sei 'etwas los'. Als ich nachschaute, entdeckte ich in meinem unverschlossenen Auto unrasierte Männer in durchlöcherten Kleidern. Ich lud sie ein, in meinem Haus zu übernachten. Damals wurde es mir bewusst, dass es in Basel Menschen gibt, die im Elend leben. Ich beschloss, ihnen zu helfen. Ich legte fünfzehn Matratzen bereit. Jede Nacht waren sie belegt. In den Obdachlosenkreisen hatte es sich herumgesprochen, dass man bei mir gratis schlafen konnte. Die meisten meiner Gäste waren scheu und misstrauisch. Einige erzählten mir aber ihre Lebensgeschichte."

Inzwischen sieben Notschlafstellen

Dem Handwerksmeister wurde die Ausübung praktischer privater Wohltätigkeit für Obdachlose zwar wie gesagt verboten, doch sein Engagement machte den zuständigen Beamten offenbar Eindruck und inspirierte zu einer offiziellen Lösung: Beim Theodorschulhaus wurde eine staatliche Notschlafstelle für Männer mit 54 Betten eingerichtet. Der Handwerksmeister anerkennt zwar den Nutzen solcher Einrichtungen, ist aber nach wie vor davon überzeugt, dass viele Clochards offizielle Übernachtungsmöglichkeiten meiden. Er meint, für den Staat wäre es billiger und für die Betroffenen sinnvoller gewesen, Wohnungen in der Altstadt zu reservieren, wo eigenbrötlerische Obdachlose ungestörter und in weniger "amtlicher" Atmosphäre gemütlicher leben könnten... 

Gemäss Erhebungen und Schätzungen von Fachleuten gibt es in Basel momentan mindestens 340 Obdachlose, für die gegenwärtig folgende sieben Not-Übernachtungsstellen zur Verfügung stehen:
Die Staatliche Notschlafstelle mit 54 Betten (Kirchgasse 6); das Hospiz Heilsarmee mit 74 Betten (Rheinweg 75); das Männerheim Heilsarmee mit 76 Betten (Utengasse 21); die Herberge zur Heimat im "Engelhof" am Nadelberg mit 60 Betten; das Frauenheim der Heilsarmee mit 17 Betten (Breisacherstrasse 45) sowie die "Wegwarte", katholisches Durchgangshaus für Frauen und Mädchen mit 43 Betten (Klingentalstrasse 59).


Schicksalsschläge und Enttäuschungen

Die Ursachen von Obdachlosigkeit sind so unterschiedlich wie die davon betroffenen Menschen und ihre Lebensgeschichten. Die Leiterin der "Wegwarte", des katholischen Durchgangshauses für Frauen und Mädchen, berichtet:

"Die Polizei brachte uns wiederholt ältere Damen, die nicht einsehen wollten, dass sie ihre Wohnungen hätten räumen müssen. Wir beherbergen solche Frauen, bis wir für sie eine neue Wohnung gefunden haben, oder bis ein Platz in einem Altersheim frei ist." - Ein anderer Gast war ein blutjunges, schwangeres Geschöpf, das von der Polizei aufgegriffen und ins Durchgangshaus gebracht wurde, weil das Mädchen verstört in der Stadt umhergeirrt war, nachdem es ihr Vater aus dem Haus gejagt hatte...
 

Die Verwalterin des Frauenheims der Heilsarmee erzählt:

"Bei uns wohnen manchmal Mütter, deren Männer oder Söhne mangels Wohnung im Männerheim schlafen müssen." Das sind relativ "harmlose", in erster Linie organisatorisch zu lösende Fälle im Vergleich zu den verängstigten und traumatisierten Frauen, die im Frauenheim Schutz vor ihren notorisch gewalttätigen Ehemännern suchen.
 

Bei männlichen Obdachlosen reichen die "Fälle" vom Bettnässer, der in einer Notschlafstelle nächtigen muss, weil sich kein(e) Zimmervermieter(in) mit seiner Störung abfinden will bis zum gut qualifizierten, einst tadellos funktionierenden kaufmännischen Angestellten, der nach der Eheschliessung mit gravierenden Beziehungsstörungen konfrontiert wurde, die ihm als Alleinstehender nicht bewusst waren, und nach dem Scheitern der Ehe im Alkohol Trost suchend Arbeitsstelle und Wohnung verlor. 
 

Mehr als 340 Obdachlose 

Basel stellt seinen Obdachlosen 340 Betten zur Verfügung. Diese sind in der Regel jede Nacht besetzt. Alle sieben Notschlafstellen müssen regelmässig Obdachlose wegen Platzmangels abweisen. Deswegen plant die Heilsarmee zurzeit ein grösseres Frauenheim. Auch das Leonhardsheim will in ein grösseres Haus ziehen.

Ungezählte Obdachlose nächtigen weiterhin draussen, zum Beispiel auf Ladebrücken parkierter Lastwagen, in Güterwagen, Einstellräumen oder noch nicht bezogenen Neubauten, am Rheinbord, "sous les ponts de Bâle", oder in einer Parkanlage.