Über seinen Besuch bei Oberbaselbieter Jazzmusikern berichtete Felix Feigenwinter am 26.Juni 1962 in den „Basler Nachrichten“:

Die „Vetter“ spielen für Fondue

Von Felix Feigenwinter

Im Saal ragen Stuhlbeine zur Decke, und in einer Ecke steht ein elektrischer Blocher. Dazwischen improvisieren sieben Männer über ein Dixieland-Thema. Mein einsamer Applaus – ich bin das einzige Publikum – lässt die Musiker aufblicken. „Eine Reportage wollen Sie machen?“ Ich werde an den „Bandältesten“, den Schlagzeuger, gewiesen. Seine Kollegen nennen ihn „Vetter“, weil er den Trinkspruch: „Vetter, trinket“ braucht. „Vetter“ ist Geschäftsinhaber und Familienvater. Nach ihm wurde die Band getauft. Die sieben musizierenden Baselbieter nennen sich „Vetters Hot Seven“. Jeden Freitagabend treffen sie sich im Saal eines Sissacher Hotels und improvisieren unter Ausschluss der Öffentlichkeit, ganz zu ihrem eigenen Vergnügen: „Wir spielen keine Tanzmusik, sondern echten Jazz; nur Kenner der Materie sind zugelassen.“

Bieridee hilft Dörfligeist überwinden

Unsere erste Band war Ende der Vierzigerjahre aus einer Bieridee entstanden“, höre ich. „Vetter“ erzählt: „Es war an einem Sängerfest in Sissach. Wir hatten ziemlich viel Bier getrunken. Da kam plötzlich einer auf die Idee, eine Jazzband zu gründen und auf der Bühne aufzutreten. Wer ein Instrument spielen konnte, erschien in einem alten Schopf zur Generalprobe. Dann kehrten wir zum Sängerfest zurück und liessen uns als amerikanische Dixielandband ansagen. Das Publikum tobte vor Begeisterung.“ In den folgenden Jahren seien die Jazzbands im Baselbiet nur so aus dem Boden geschossen, berichtet „Vetter“ weiter. Im Januar 1955 vereinigten sich die besten Musiker zur „Vetters Hot Seven“. Der Pianist bemerkt: „Das half den Dörfligeist überwinden. Die Sissacher und Gelterkinder waren nie gut aufeinander zu sprechen; die Fussballspiele zwischen den beiden Dörfern drohten in Schlägereien auszuarten. Unsere Jazzband hat Sissacher und Gelterkinder friedlich vereint, ähnlich wie der Jazz in Amerika Weisse und Neger zusammengebracht hat“.

Richard Wagner spielt Banjo

Vetter“, der Schlagzeuger, zählt zu den ältesten Schweizer Amateur-Jazzmususikern, die noch aktiv sind. Das Traggestell seines Instrumentes hat er aus Heizungsröhren selbst gebastelt, damit er das Schlagzeug in einen Reisekoffer verpacken kann. Der 34jährige Trompeter „Bill“ war bei der Gründung der ersten Band ebenfalls schon dabei; vorher hatte er bei der Orchestergesellschaft Gelterkinden musiziert. Der Klarinettist mit dem angegrauten Bart ist ein weiterer Jazz-Veteran. „Die Vetter begannen vor drei Jahren, modernen Jazz zu spielen“, sagt er. „Da kam ich nicht mehr mit. Ich gründete daher in Gelterkinden mit Nachwuchsmusikern eine eigene Band, in der wir den traditionellen Stil pflegen. Von Zeit zu Zeit gehe ich aber auch zu meinen alten Kollegen nach Sissach; jetzt gerade ersetze ich den neuen Klarinettisten, der heute nicht kommen konnte.“

Der neue Klarinettist, erfahre ich, spielte früher in einer Basler Band. Er hielt am nationalen Jazzfestival in Zürich den dritten Solistenpreis. Ein anderes Talent ist der Posaunist. Früher blies er Basstuba; mit seinem jetzigen Instrument, einer Ventilposaune, hat er es am Festival in Zürich zweimal auf den vierten Platz gebracht.

Die „Vetters Hot Seven“ wurden am Zürcher Jazzfestival 1958 als beste Dixielandband der Nordwestschweiz ausgezeichnet.

Etwas Lustiges passierte uns am Festival von 1957“, erzählt der Trompeter. „Damals sprangen beim Banjo während dem entscheidenden Vortrag die Saiten. Unser Banjomann 'spielte' aber weiter, als ob nichts geschehen wäre. Die Jury merkte offenbar nicht, dass sein Instrument keinen Ton mehr von sich gab und klassierte ihn im dritten Rang.“ Inzwischen mussten der Bassist und der Banjospieler ersetzt werden, weil sie fortgezogen sind. Der neue Banjomann heisst Richard Wagner. „Nein, nein, mit dem Komponisten bin ich nicht verwandt“, wehrt er ab. Bei modernen Stücken greift Richard Wagner zur Gitarre, „weil sich damit besser 'swingen' lässt“; seine besondere Liebe gilt aber dem traditionelleren Banjo.

Auf dem Klavier der Tante

Der Besitzer des Hotels ist erschienen. „Spielt einen Ländler“, fordert er die Musiker auf. Ein an Urchigkeit kaum zu überbietender „Huudigäggeler“ klingt durch den Saal. „Der Ländler ist für uns so etwas wie eine schweizerische Dixieland-Musik; Ländler und Dixielandmusik sind miteinander verwandt: beide sind folkloristisch.“ Das Repertoire der „Vetters Hot Seven“ umfasst etwa dreissig traditionelle und modernere Jazzthemen. „Wir arrangieren die Themen nach Schallplatten und improvisieren nach Lust und Laune“, höre ich. „Am liebsten würde ich Trompete oder Posaune blasen, aber wir benötigten eben einen Pianisten“, sagt der Pianist... - „Wo haben Sie Klavierstunden genommen?“ - „Auf dem Klavier meiner Tante. Meine Kollegen halfen mir, die Jazzharmonien herauszusuchen.“

Jazz und „Brot für Brüder“

Der Hotelbesitzer erklärt, dass die Jazzband für die Saalbenützung nichts bezahlen müsse. „Die 'Vetter' sind mir sympathisch; es sind Idealisten, die ihre Musik nicht verkaufen.“ Dass die „Vetter“ keine kommerziellen Absichten hegen, wissen auch die Organisationen von Wohltätigkeitsveranstaltungen. Das letztemal trat die Band an einem Bazar zugunsten der Aktion „Brot für Brüder“ auf; für die nächste Zeit sind Konzerte in Sissach und Liestal vorgesehen. „Manchmal dürfen wir auch in Privathäusern spielen“, sagt der Trompeter. „Einmal bekamen wir als Gegenleistung ein vorzügliches Fondue-Essen vorgesetzt. Das ist uns lieber als Geld, denn wenn wir uns mit Finanzen herumschlagen müssten, wäre es nur noch halb so gemütlich in unserer Band.“