Der Basler Markt auf dem Marktplatz, umgeben von einer sehenswerten Häuserkulisse mit dem pittoresken Rathaus und anderen eindrucksvollen Innenstadt-Gebäuden, gehört an jedem Werktagsmorgen zum Basler Stadtleben. Felix Feigenwinter besuchte die Marktfrauen und -männer im Morgengrauen, im Spätherbst des Jahres 1970. Seine Reportage ist im „doppelstab“ erschienen.

 Stirbt der Markt aus?

Von Felix Feigenwinter


Morgens nach sechs Uhr schnüffelt ein Reporter-Duo auf dem Marktplatz herum. Der Fotograf gähnt: “Sisch jo no zmitts in der Nacht“ und rüstet seine Blitzlichtvorrichtung. Tatsächlich ist es noch dunkel. Doch auf der zentral gelegenen Allmend herrscht emsiges Treiben: Männer und Frauen schleppen prallvolle Säcke und Harrassen herbei und verwandeln Handkarren in bunte Verkaufsstände. Vergnügt und offensichtlich hellwach plaudern sie mitten in der verschlafenen Innerstadt. Nachdem man die düsteren Gesichter der in den Tram zur Arbeit fahrenden Frühaufsteher gesehen hat, erleichtert solche Fröhlichkeit. Frühaufstehen ist für die Marktfrauen kein lästiger Zwang; er gehört zu ihrem Berufsstolz. An Herbst- und Wintertagen bieten die hurtigsten unter ihnen ihre Ware schon um sechs Uhr früh an, und im Sommer schlagen sie ihre Stände gar um fünf Uhr auf. Erstaunlicherweise finden sich um diese herrgottsfrühe Zeit bereits die ersten Kunden ein.


Herzlichkeit

Aus einem Peugeot mit französischem Nummernschild lädt eine kleine, ältere Frau mit Kopftuch einen Plastiksack mit Zwiebeln. Sie trägt ihn zu einem von einem jüngeren Mann bereits eingerichteten Stand, versucht den Sack zu öffnen und meint heiter: „Ojeoje – jetz bring-en nimm uff“. Josephine Boulay – so heisst die Elsässerin aus Neudorf – kann aber auf die Hilfe ihres Sohnes Ernest zählen. Und wenn etwas nicht gerade geht, wie es eigentlich sollte, so ist das für sie ohnehin kein Grund zur wirklichen Aufregung. Die unverfälschte Beziehung zur Natur, die sie als Landwirtin und Marktfrau seit jeher pflegt, lehrt sie Geduld und Unerschütterlichkeit.

In der Natur gibt es keine Perfektion – der Ertrag eines Gemüsefeldes lässt sich nie genau im voraus berechnen. So etwas färbt ab auf die Einstellung zu allem – sogar zum Geschäft.


Eigenes Auto

Josephine Boulay berichtet, dass sie Rüben, Spinat, Salat und das andere, auf ihrem zwei Hektaren grossen Land in Neudorf wachsende Gemüse seit Kriegsende regelmässig auf dem Markt verkaufe – im Winter kommt sie freilich nur drei- statt sechsmal wöchentlich nach Basel. Früher habe ein Transportgeschäft Waren und Stände der Neudorferinnen zusammen ans Rheinknie geführt; heute aber besitzen alle acht Marktfrauen aus dem kleinen Elsässer Dorf eigene Autos.


Immun gegen Kälte

An einem benachbarten Stand stellt eine Marktfrau, deren hoher, weisser Hut im Dämmerlicht weitherum leuchtet, ihren kleinen Geldtresor zwischen Rüben und Blumenkohl. Auf dem Marktplatz hält sie ihre Naturprodukte schon seit vierzig Jahren feil. Auf meine Frage antwortet Josephine Parra, so heisst diese Neudörferin, dass ihre Geldkasse, obwohl angerostet, keineswegs vierzig, sondern erst vier Jahre alt ist. So alle fünf Jahre müsse sie sich eine neue Kasse anschaffen, weil die alte durch die Witterungseinflüsse unbrauchbar oder zumindest unansehlich geworden ist.

Ganz anders Josephine Parra selber: Sie verkauft auch bei Kälte ihr Gemüse ohne Handschuhe – wie fast alle Marktfrauen übrigens, die gegen Kälte immun geworden sind. Frau Parra erinnert sich, wie einst ihr Grossvater jeden Werktag mit dem Handkarren von Neudorf aus zu Fuss auf den Markt gezogen war. Und sie erzählt, dass sie die Behälter, in denen sie das Gemüse anbietet, früher in der Nacht geputzt hatte, weil sie nach der Rückkehr vom Markt am Nachmittag  Feldarbeiten verrichtete. Heute arbeitet nur noch ihr Mann, ein gebürtiger Spanier, auf dem Gemüsefeld – Frau Parra beschränkt sich jetzt ganz aufs Marktfrauendasein und hat daher schön Zeit, die Kisten jeweils am Nachmittag zu reinigen. Oft geht sie abends schon um halb acht Uhr ins Bett, um anderntags zur Morgestraichstunde ausgeschlafen aus den Federn schnellen zu können.


Privilegierte Schweizer

Doch nicht nur Elsässerinnen gibt es unter den Marktfrauen; auch waschechte Baslerinnen oder doch zumindest Baselbieterinnen helfen jeden Morgen Basels Vitaminbedarf decken. Und neben Obst und Gemüse werden ja auch Blumen angeboten. Irmgard Dietziker beispielsweise verkauft seit nun schon 35 Jahren aus Italien und Holland importierte Schnittblumen. Nach althergebrachtem Privileg kann sie ihren Stand als Baslerin am Rande des Marktplatzes aufstellen – also dem Trottoir entlang an bevorzugter Stelle, was den ausländischen Marktfrauen nicht gestattet ist.

Jede Woche telefoniert Frau Dietziker zweimal mit ihrem Importeur, und schon anderntags stehen die bestellten Schachteln mit den frischen Schnittblumen, von einer internationalen Transportfirma direkt auf den Marktplatz geliefert, an der Stelle, wo sie seit Jahrzehnten ihren Stand aufschlägt.


Morgenkaffee auf den Platz serviert

Inzwischen ist es acht Uhr geworden. Die ersten Obst-, Gemüse-und Blumenverkäufe sind getätigt, zum Teil noch während des Aufbaus der Stände. Jetzt gönnen sich die Marktfrauen ein wenig Ruhe. Sie trinken ihren Morgenkaffee und essen dazu ein Weggli. Einige verlassen ihren Stand und besorgen dies in einem nahen Restaurant. Die meisten aber lassen sich den Café complet auf dem Platz servieren.

Marie Riegert zum Beispiel wird perfekt von Greti Bühler bedient, die das Morgenessen elegant wie eine professionelle Serviertochter vom Café Marizza zum Gemüsestand jongliert.

Greti Bühler war eben wirklich Serviertochter (zuletzt in der „Hasenburg“), bevor sie sich vor vierzehn Jahren zu den Marktfrauen gesellte. Ich frage, ob in der kurzen Abwesenheit einiger Kolleginnen diese punkte Geschäft nicht zu kurz kommen. „Im Gegenteil“, lacht eine Elsässerin, „wir helfen einander. Wenn eine Kundin am leeren Stand steht, dann gehe ich hinzu und verkaufe auf Rechnung meiner Kollegin das Gewünschte. Wir kennen uns ja alle und wollen einander nicht schaden.“


Hunde haben keinen Zutritt

Später begegne ich einem Polizisten, der wachsam zwischen den Ständen durchschlendert. Es ist der Verkehrsdienstangestellte Hans Bracchi. Er (oder an anderen Tagen einer seiner Kollegen) hat die Funktion, die früher, will sagen bis noch vor einem Jahr, der sogenannte und inzwischen pensionierte Marktaufseher auszuüben hatte. „Ich schaue zum Beispiel, ob die Ware angeschrieben ist, dass der Platz sauber bleibt und dass keine Hunde auf den Markt kommen.“

Der Marktpolizist hat aber auch zum Rechten zu sehen, falls sich einmal ein Streit zwischen einer Marktfrau und einem Kunden wegen des Herausgelds entfachen sollte. Dazu Hans Bracchi: „Ich versuche zu schlichten, wenn eine Kundin beispielsweise behauptet, sie habe zu wenig Herausgeld bekommen. Meistens handelt es sich ja um ein Missverständnis. Wenn das Schlichten nichts nützt, bitte ich die Streitenden, mir auf den Rathausposten zu folgen.“ Beim Polizisten, oder auf dem Rathausposten, können sich aber auch etwa Leute anmelden, die sich entschliessen, ebenfalls Marktfrau oder Marktmann zu werden. In der Regel bekommen sie die dazu nötige Bewilligung ohne Schwierigkeiten.


Kein Marktfrauen-Nachwuchs?

Ein Blick auf den Marktplatz zeigt, dass Marktfrauen-Nachwuchs rar ist. Die Kinder der meisten Marktfrauen und -männer haben einen anderen, „modernen“ Beruf gewählt. Die Tochter der Marktfrau Josephine Parra beispielsweise wurde Büroangestellte; die Tochter von Frau Dietziker liess sich zur Stewerdess ausbilden.

Die Zeiten, da die junge Generation in den Fussstapfen ihrer Mütter und Väter wandelte, scheinen vorbei. Also stirbt der Markt in Basel aus? Die Frage stellte ich mehreren Marktfrauen. Keine einzige verneinte sie. Sie meinen alle, dass wir heute in anderen Verhältnissen leben und dass man von den Jungen nicht mehr verlangen kann, einer derart „unrationellen“ Beschäftigung nachzugehen. Elisabeth Kilcher sagt: „Der Markt stirbt langsam aus. Früher waren gar schwere Zeiten. Wieso sollen heute die Jungen bei allem Wetter Gemüse verkaufen?“ Aber sie erörtert auch ihren eigenen Standpunkt: „Ich bleibe dem Markt treu. Wegen mehr Luxus gehe ich nicht anderswo arbeiten. Zu leben habe ich genug. Und als Marktfrau bin ich ein freier Mensch, habe nicht nach der Peitsche eines Chefs zu tanzen. Mein Chef ist der liebe Gott“.