Meine Schwester Adelheid
 
Von Felix Feigenwinter
 

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Adelheid Feigenwinter als Zwanzigjährige

Kindheit im Mühlematt-Quartier an der Ergolz in Liestal


Adelheid war meine um drei Jahre ältere Schwester, die Älteste von vier Kindern. Genau gesagt hatten meine Eltern fünf Kinder - mein älterer Bruder Stefan starb im Säuglingsalter vor meiner Geburt an einer Lungenentzündung. In Adelheids Phantasie spielte der Tod des Bruders eine wichtige Rolle. Als kleines Mädchen erfand sie Rituale, mit denen sie mit Stefan in Verbindung treten wollte. So "verschwand" sie in ihrer Einbildung in einem Spiegel, um dem toten Brüderchen zu begegnen. Dieses unheimliche, gespenstische Spiel hatte sie jeweils in meiner Anwesenheit zelebriert - sie hatte es derart überzeugend phantasiert, dass ich damals, als kleiner Bub, überzeugt war, es gelänge ihr, mit dem verstorbenen Bruder wirklich in Kontakt zu treten.

Als ältestes von vier Geschwistern übernahm Adelheid gewissermassen die Rolle der mütterlichen Stellvertreterin, wenn sie uns jüngere Geschwister hütete, wenn die Mutter im Haushalt beschäftigt war oder einkaufen ging. Adelheid war ein introvertiertes, fremden Kindern und vor allem Erwachsenen gegenüber schüchternes, empfindsames Kind, gleichzeitig aber auch ein ungemein phantasievolles, kreatives Mädchen, das interessante Spiele erfand, schon im Vorschulalter viel zeichnete und malte und uns Geschwistern, aber auch interessierten Nachbarkindern, selbst erdichtete Märchen und Fortsetzungsgeschichten als Hörspiele vorführte: Im Keller eines Geräteschuppens, der zum Einfamilienhaus gehörte, in dem unsere Familie eingemietet war, lauschten wir gebannt ihren über dem Holzboden mit verschiedenen Stimmen und Geräuschen lebhaft vorgespielten Hörspielen.

Adelheid war in vieler Hinsicht mein frühes Vorbild. Ich war stolz auf meine Schwester, als uns die Lehrerin in der ersten Primarklasse eine von Adelheid geschriebene, farbig illustrierte Kindergeschichte vorlas. Adelheid hatte schon früh den Ruf eines "Wunderkindes", sowohl in der Primarschule als auch innerhalb der Familie, wo sie während Verwandtenbesuchen ihre Geschichten und selbst erfundenen Verslein vortragen und die dazu gehörenden Zeichnungen zeigen durfte.

Umzug an die Rotackerstrasse

Nach meiner Erinnerung fiel Adelheids erste sichtbare Verstörung mit dem Auszug aus dem idyllischen Einfamilienhaus mit dem grossen Garten zusammen, wo unsere Familie an der damals noch ländlichen, weitgehend naturbelassenen nördlichen Peripherie der basellandschaftlichen Kantonshauptstadt Liestal, wo unser Vater als Jurist am Strafgericht arbeitete, während über zehn Jahren eingemietet gewesen war und das unserer Kindheit, nahe am damals noch nicht zubetonierten Ergolz-Ufer und nahe am Waldrand des Schleifenbergs, einen geradezu paradiesischen Rahmen geboten hatte. Unserer Mutter war die Haushaltarbeit in dem mehrstöckigen alten Einfamilienhaus aus verständlichen Gründen zuviel geworden, und deshalb zog unsere Familie anfangs der Fünfzigerjahre in eine moderne Parterrewohnung in einem neu erstellten Mehrfamilienhaus im gediegenen Wohnquartier Rotacker am westlichen Berghang, oberhalb des Bahnhofs, mit Blick auf die Altstadt. Adelheid hatte zuvor ein Jahr im katholischen Mädcheninstitut Sacré-Coeur am Neuenburgersee verbracht. Sie kam von diesem einjährigen Aufenthalt in der französischen Schweiz direkt ins neue Domizil. Mir schien, der Einzug in die neue Wohnung, die sie gegenüber dem bisherigen alten Haus mit seinen verwinkelten Kammern und dem grossen Garten als "steril" empfand, verstärkte ihre Entfremdungszustände, die sie im katholischen Internat offenbar erlebt hatte.

Erste Erfahrungen mit der Psychiatrie

Für Adelheid begann nun jedenfalls ein Lebensabschnitt, der einerseits durch gescheiterte (von einem amtlichen Berufsberater empfohlene) Berufsversuche gekennzeichnet war - zum Beispiel von einem missratenen Einstieg in die Ausbildung zur Werbegrafikerin oder einer abgebrochenen Lehre als Textilzeichnerin. Und gleichzeitig von Verwirrung, seelischer Krankheit, ersten Erfahrungen mit der Psychiatrie. Während dieser Krise ereignete sich andererseits ein intensiver kreativer Schub, der Adelheid zu intensiven Aktivitäten als Schriftstellerin und Malerin trieb, der durch ihren ersten Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik zwar unterbrochen, aber nicht abgebrochen werden konnten.

Judith Januar im Musikcafé "Atlantis"

Ich war vielleicht fünfzehnjährig, als ich Adelheid, damals noch in Begleitung meiner Eltern, zum ersten Mal in der psychiatrischen Klinik besuchte. Die Ärzte hatten bei ihr "Schizophrenie" diagnostiziert, man machte mit ihr Elektroschocks und spritzte ihr Insulin - die damaligen Behandlungsmethoden für Schizophrene. Adelheid war nicht ansprechbar, sie befand sich in einem wirklich besorgniserregenden Zustand. Auch ich konnte mich mit ihr vorübergehend nicht mehr verständigen, was für mich eine sehr schmerzliche Erfahrung war, weil wir uns als Kinder, aber auch als pubertierende Jugendliche in vorerst heimlicher und schliesslich offener Rebellion gegen die uns suspekt erscheinende Herrschaft der väterlichen Autorität verschworen hatten, die ja die Herrschaft totalitärer Dogmen vertrat. Erleichtert durfte ich erleben, dass eine Verständigung zwischen uns beiden "schwarzen Familienschafen" dann doch wieder möglich wurde, nachdem Adelheid aus der Klinik ausgetreten und vorerst in die elterliche Wohnung zurückgekehrt war, von wo aus sie als Schriftstellerin  und Malerin an die Öffentlichkeit zu treten begann - mit Texten, die unter dem Pseudonym Judith Januar im Feuilleton beziehungsweise im "Sonntagsblatt" der "Basler Nachrichten" erschienen und an einer Kunstausstellung in Liestal, wo sie ihr erstes Bild verkaufen konnte. Ich selber betätigte mich damals als freier Journalist in Basel; ich schrieb Gerichtsberichte für die "Basler Nachrichten", auch für die Schweizerische Depeschenagentur, und Reportagen für verschiedene Zeitungen. Meiner älteren Schwester begegnete ich vor allem im Jugend- und Musikcafé "Atlantis" in Basel, wo Adelheid als schwarzgekleidete Einzelgängerin oft in sich gekehrt dasass.

"Auflösung ins Nichts"

Als ich Adelheid gegen Ende der Fünfzigerjahre im Zusammenhang mit einer Reportage über das Cafè "Atlantis" interviewte (im Rahmen einer Umfrage unter Gästen dieses damals, Ende der Fünfziger- und anfangs der Sechzigerjahre, auch als "Existenzialistencafé" bekannten Lokals), hatte meine Schwester ihren ersten längeren Aufenthalt in der psychiatrischen Klinik hinter sich. Sie lebte immer noch bei den Eltern, war verschlossen, schrieb aber eigensinnige Geschichten und malte eigensinnige Bilder - war also gewissermassen auf dem Sprung zu einem Künstlerdasein. Sie las damals auch Texte beispielsweise von  Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir, setzte sich also mit philosophischen und gesellschaftskritischen Fragen auseinander, die die väterlichen Dogmen und die im Elternhaus gepflegten Konventionen krass in Frage stellten. In diesem Zusammenhang sollte Adelheids Antwort "Auflösung ins Nichts" auf meine damalige journalistische Frage, was sie sich wünsche, begriffen werden. Ihr geäusserter Wunsch, mit dem sie die katholisch-bigotte Verwandtschaft schockierte, als diese Adelheids Äusserung in der illustrierten Zeitung, wo meine Reportage erschien, zur Kenntnis nehmen musste, war nicht nur eine gezielte Provokation, sondern Ausdruck eines wirklichen Lebensüberdrusses, den Adelheid erstaunlicherweise schon als kleines Kind befallen haben muss, wie sie in ihrem autobiografischen Essay "Innen und aussen" beschreibt (nachzulesen im 1997 postum bei Luchterhand, München, herausgebrachten Erinnerungsband "Der letzte Frühlingstag").
Dort bekennt Adelheid wörtlich:
"Ich hatte als Kind tatsächlich Anfälle von grossem Lebensüberdruss und stellte mir oft vor, wie schön es wäre zu sterben. Ich glaube, deshalb bemühte ich mich nie, mich auch nur in Gedanken in meiner Umwelt einzurichten, das heisst, mich auf meine Umwelt abzustimmen. Mir lag auch nicht daran, sie mir 'untertan' zu machen, und ich unterordnete mich nur zum Schein, jede Konvention war mir verhasst, doch ich gab mich willig, weil ich nicht unangenehm auffallen wollte."

Zwischen Traum und Wirklichkeit

Die Schwebe zwischen Traum und Wirklichkeit, die ihr ganzes Leben kennzeichnete und  auch in ihren Erzählungen eine ganz wesentliche Rolle spielt, führte, wie sie in ihrem autobiografischen Text "Innen und aussen" berichtet, zu einer "unbeschreiblichen Enttäuschung", als sie mit ihren Eltern und Geschwistern im Tessin, in der Südschweiz, Ferien verbringen konnte: Es sei für sie gewesen, als habe "jemand eine Tür zugeschlagen, die sich einen Spalt weit geöffnet hatte und Licht einströmen liess, und liesse mich in einem leeren Korridor stehen", so schildert Adelheid  dieses Erlebnis der Enttäuschung. Adelheid hatte sich das "Tessin" eben lange, bevor sie mit der Familie dorthin in die Ferien fuhr, dank einem  Aquarell von Hermann Hesse, das im Wohnzimmer der Eltern hing, als Traum vorgestellt, als Paradies "mit geschweiften Hügeln, Blumen wie Monde und Riesenschildkröten, die über ein himmelblaues Meer schwammen", wie Adelheid schreibt. Dieser Traum des Kindes Adelheid wurde durch das reale Erlebnis der Familienferien im Tessin offenbar zerstört. Ich war überrascht und erstaunt, als ich dieses Bekenntnis von Adelheid zum erstenmal las, denn in meiner Erinnerung waren jene Sommerferien im Tessin bei Brissago am Lago Maggiore die schönsten Ferien überhaupt, die ich als Kind erlebt hatte.   


Vom Wunderkind zur Problemtochter

Unsere im Rahmen des vorgegebenen autoritär-katholischen Erziehungsprogramms disziplinierten und insofern strengen Eltern haben den schöpferischen Drang des begabten Mädchens meines Wissens wohlwollend gefördert. Das trifft auf alle Fälle auf Adelheids Lebensphasen im Vorschulalter und dann sicher auch als Primarschülerin zu. Anders muss meiner Meinung nach der Einfluss des Elternhauses auf Adelheids spätere Entwicklung in der Pubertät beurteilt werden. Die Entwicklung des "Wunderkindes" erlitt in dieser heiklen Lebensphase schwere Störungen. Der katholisch-autoritäre Erziehungshintergrund war dem angemassten Autoritäten und Konventionen gegenüber hochempfindlichen, wachsend widerspenstigen Mädchen nun gewiss nicht nur mehr förderlich. Dazu kam der Leistungsdruck in einer auf das Funktionieren in einer rationalen Arbeitswelt ausgerichteten Schule, in welcher die ausgeprägt musisch begabte Schülerin kaum Möglichkeiten hatte, sich nach ihren Bedürfnissen zu entfalten. Adelheids Entwicklung wurde sicher auch wegen der durch den katholisch-regelpedantischen Vater ausgeübten Denkkontrolle behindert, aber glücklicherweise nicht verhindert. Ich kann mich entsinnen, dass Adelheid trotz väterlichen Verbots Bücher las, die auf dem damaligen katholischen Index standen.

Zu bedenken ist, dass die repressive "Ordnung des Vaters" jedoch keineswegs die ganze Familie in Rebellion stürzte. Unsere Mutter -   aus einer protestantischen Stadtbasler Sippe -  versuchte in der Regel auf diplomatischem Weg, die Rigorosität väterlicher Erziehungsvorstellungen zu mildern, die dogmatische Lebenshaltung aufzulockern, zu liberalisieren, vermittelnd zu wirken. Unser Vater war persönlich ein  netter, korrekter Mensch, ein pflichtbewusster Familienvater, Staatsdiener und Kirchengläubiger, weder korrupt noch lasterhaft. ("Euer Papa war ein anständiger Mann, ein Lieber", erinnerte sich meine Cousine Rita einmal in einem familiären Gespräch.) Er war ein Konservativer nicht ohne soziales Verständnis, glaubte an die Gerechtigkeit, aber auch unbedingt an die Dogmen der katholischen Kirche. Die jüngere Schwester Theres hat den mütterlichen Stil übernommen. Anders als die Künstlerin Adelheid hatte Theres immer ein unkompliziertes Verhältnis zur Wirklichkeit. Sie wurde die perfekt funktionierende Ehefrau, Mutter zweier Kinder - eine ausgeglichene, vernünftige, freundlich hilfsbereite, charmante Frau, die ihrer schwierigen älteren Schwester Adelheid immer wieder diskrete und uneigennützige Hilfe anbot. Und auch den Jüngsten von uns vier Geschwistern würde ich als "Musterkind" bezeichnen: Sowohl beruflich als Jurist als auch privat als katholischer Familienvater trat er gewissermassen in die Fusstapfen meines Vaters. Mein jüngerer Bruder war nie ein Rebell, sondern ein folgsamer, angepasster Sohn.

Die in ihrer Jugend auffällig rebellierenden Kinder waren also eindeutig nur die beiden Erstgeborenen, meine dichtende und malende introvertierte Schwester Adelheid und ich, der  in den Sechzigerjahren Tabu-Themen  wie z.B. Entkriminalisierung der Militärdienstverweigerung und Schwangerschaftsunterbrechung, Frauenemanzipation  oder Widerstand gegen die Planung und den Bau von Atomkraftwerken journalistisch engagiert zur Sprache brachte (notabene als individueller Widerstand damals noch "gegen den Strom schwimmend" - das heisst vor dem Ausbruch der 68-er Bewegung).

Die Reaktionen der vier Geschwister  auf die Repression der Vaterwelt waren demnach    
auffallend unterschiedlich. Ob und wie weit diese individuell verschiedenen Reaktionen möglicherweise auch eine Folge veränderten Erziehungsverhaltens meiner Eltern im Verlauf  der Jahre war (vielleicht aufgrund der mit Adelheid und mir gemachten Erfahrungen?), das kann ich als Betroffener nur schwer beurteilen. Eine entsprechende objektive Analyse müssten wohl eher Aussenstehende liefern.

"Wie eine ausgeblasene Kerze im Dunkeln"

Für mich ist es schwierig, im Nachhinein die Phase in Adelheids gestörter Entwicklung chronologisch präzise nachzuvollziehen und sachlich zu analysieren. Ich hatte mich damals selber von der väterlichen Normenwelt zu befreien, war sozusagen mit meiner eigenen Identitätsfindung beschäftigt. Dazu kam die Verschwiegenheit unserer Eltern bezüglich familiärer Probleme. Über die wahren, gewiss nicht nur einfach auf ein liebloses Erziehungssystem oder das persönliche Verhalten von Eltern, Pfarrern, Lehrern etcetera zurückzuführenden Gründe kann letztlich nur spekuliert werden. Die Annahme eines traumatischen Erlebnisses  im Zusammenhang mit sexuellem Missbrauch möglicherweise schon in einer früheren Phase von Adelheids Kindheit bleibt mangels bekannter konkreter Fakten im Bereich der Spekulation, ist meines Erachtens aber nicht abwegig.

Die Folgen von sexueller Ausbeutung werden von der Schriftstellerin Adelheid Duvanel zum Beispiel in der Erzählung "Ein zweites Ich" sehr eindrücklich geschildert.
In dieser Geschichte, die im 1985 vom Luchterhand Verlag herausgegebenen, inzwischen vergriffenen Erzählband "Anna und ich" veröffentlicht wurde, wird ein Mädchen namens Margrit von einem fremden Mann, den Margrit als "dumpf" empfindet, in einen Keller gelockt, wo das Kind vom Mann sexuell missbraucht wird. Am Sonntag geht Margrit mit den anderen Kindern zur Kommunion. Nachher fällt der Gedanke über sie, dass sie nun von Gott verdammt sei. Ihr Ich steht wie eine ausgeblasene Kerze im Dunkeln. Sie muss ein zweites Ich erfinden, um weiterleben zu können; ein Ich, das lachen und spielen und Hausaufgaben machen kann. Im Alter von neunzehn Jahren begeht Margrit Selbstmord.
 

Liebesheirat

In Ihrem Text "Meine Enkelin Blanca Adela", der im Band "Der letzte Frühlingstag" veröffentlicht wurde, schildert Adelheid ihre erste Begegnung mit ihrem späteren Ehemann wie folgt:

"...durch unsere Liebe zu Chopin hatten mein Mann und ich uns ineinander verliebt: Er spielte, neunzehnjährig und total betrunken, auf dem alten Klavier meiner Eltern einen Chopin-Walzer und wirkte dabei so sinnlich, so fremd, so verfeinert, so voll verhaltener Kraft..."

Ich muss gestehen, dass ich an dieser ersten, so schicksalshaften, folgenschweren Begegnung nicht unschuldig war. Den jungen Joseph (Joe) Edward Duvanel, damals als Kunstmaler noch ein unbeschriebenes Blatt, kannte ich schon einige Zeit, bevor Adelheid ihn traf. Ich brachte ihn in die Wohnung unserer Eltern, um ihn Adelheid vorzustellen, weil ich dachte, der Kontakt mit einem jungen Künstler (Joe war vier Jahre jünger als Adelheid) würde sie, die ja auch malte und immer  noch bei den Eltern lebte, ein wenig aus der Isolation herausbringen.

Joe war ein eigenwilliger Aussenseiter von sozusagen exotischer Ausstrahlung - die indisch-englische Abstammung seiner Mutter war nicht zu übersehen. Adelheids Schwiegermutter sprach übrigens englisch, kaum deutsch, obwohl sie schon lange Zeit in Pratteln lebte, und die Muttersprache des Schwiegervaters, der aus der welschen Schweiz stammte (aus dem Kanton Neuchâtel), war französisch. Joe Duvanel war damals, als ihn Adelheid kennenlernte,  eher sanft, gefühlvoll, warmherzig, musisch orientiert. Zum egoistischen, despotischen Haustyrannen hat er sich nach meiner Wahrnehmung erst nach der Heirat entwickelt.

In den ersten Jahren ihrer Ehe, in den Sechzigerjahren, hatte ich zu Adelheid einen recht intensiven Kontakt. Ich war bei den Duvanels relativ oft zu Besuch, und ich habe Adelheids schriftstellerische Arbeit stets mit grosser Anteilnahme verfolgt. Sie gab mir alle ihre Texte, bevor sie veröffentlicht wurden, zum Lesen, und wenn dann - anfänglich noch unter ihrem Pseudonym Judith Januar - eine ihrer Erzählungen im "Sonntagsblatt" der "Basler Nachrichten" veröffentlicht wurde, war das auch für mich immer ein besonders schönes Erlebnis. Zu meinem Bedauern hatte sie das Malen damals aufgegeben, was ich leider nicht verhindern konnte; der Maler im Haus war nun eben der Ehemann, Joe Duvanel. Daran konnte auch ich nichts ändern.

In der ersten Zeit ihrer Ehe schien es Adelheid gesundheitlich viel besser zu gehen; man sah sie lachen, sie schien lebenslustig geworden zu sein, obwohl sie schon damals zeitweise, neben ihrer feuilletonistischen und literarischen Arbeit, als Bürogehilfin das Budget des Künstlerhaushaltes aufzubessern gezwungen war. Die Wohnung der Duvanel war während Jahren ein stimmungsvoller Treffpunkt der Basler Bohème-Szene, die sich bald um den Jungkünstler scharte. An den oft turbulenten, bis weit in die Nächte hinein währenden Bohèmefesten sass Adelheid meist stumm dabei. Die Gäste waren nicht ihretwegen gekommen; im Mittelpunkt stand der Ehemann, der Maler Joe Duvanel.

Aufbruch nach Formentera und ernüchterte Rückkehr nach Basel

Als die Familie Duvanel - das Ehepaar Adelheid und Joe und die kleine Tochter Adelheid - im legendären Jahr 1968 nach Spanien, auf die Insel Formentera, auswanderte, hatte ich mich ernsthaft überlegt, mich der Familie anzuschliessen, blieb dann aber aus beruflichen und privaten Gründen doch in Basel, wo ich übrigens eine zeitlang noch die in Basel verbliebenen Katzen der emigrierten Familie fütterte. In jener Zeit hatte ich meine Gunild kennengelernt und stand nun vor meiner eigenen Eheschliessung und Familiengründung. Das hiess auch, dass in der Folge meine Beziehung zu Adelheid etwas in den Hintergrund rückte. Mit Adelheids Aufenthalt auf Formentera und deren Bedeutung für das Leben und künstlerische/literarische Schaffen meiner Schwester habe ich mich u.a. mit meinem Text "
Adelheids Reisen ans Meer" auseinandergesetzt.

Nach der Rückkehr meiner Schwester aus Formentera, wo sie und die kleine Tochter vom Mann im Stich gelassen wurde, habe ich mich bemüht, Texte von Adelheid in Zeitungen zu veröffentlichen, um ihr einen so nötigen finanziellen Zustupf zu ermöglichen. Joe Duvanel widmete sich nun ohnehin mehr seiner neuen Geliebten, die von ihm ein Kind erwartete und hielt es offenbar für selbstverständlich, dass meine Schwester und die kleine Tochter vorübergehend von meinen alten Eltern aufgenommen und auch finanziell unterstützt wurden. Schliesslich bot Joe Adelheid und dem Kind das Arrangement einer "Grossfamilie" mit zwei für ihn im Haus und ausserhalb im Büro arbeitenden Frauen (nebst mehreren wechselnden Freundinnen) an - eine auch für Adelheid natürlich höchst fragwürdige Existenzform, der sie aber schliesslich zustimmte, nicht zuletzt aus Gründen mangelnder Alternativen und sicher auch wegen ihrer psychischen Abhängigkeit. Von nun an kam im Leben meiner Schwester keine Freude mehr auf. Anfangs der Achtzigerjahre folgte, nachdem die bereits drogengefährdete Tochter - damals  noch Schülerin - vom Vater aus der Wohnung gejagt worden war, die Trennung vom Mann.

Literaturpreise und Drogenelend 

Unter anderen  Umständen hätte der neue, letzte Lebensabschnitt von Adelheid, ihr Dasein als geschiedene Frau reiferen Alters, eine Chance für ein unabhängiges, eigenständiges Künstlerleben bedeuten können. In Wirklichkeit verschlimmerte sich die psychische und soziale Not. Nach dem Selbstmord des geschiedenen Manns im Dezember 1986 wurde meine Schwester je länger desto bedrückender mit dessen "Hinterlassenschaft" konfrontiert. Das Schicksal der aidskranken und drogenabhängigen Tochter und von deren Tochter, dem geliebten Enkelkind, beeinflussten in existenzieller Weise ihr eigenes Leben und erlaubten die mit Preisen und anderen Ehrungen bedachten Luchterhand-Autorin keineswegs die gewünschte freie Entfaltung als Schriftstellerin und Malerin.  Seitdem Adelheid wieder ihre kranke Tochter in die Wohnung aufgenommen hatte, um sie zu betreuen, war auch sie selber zur Geisel erpresserischer Elemente aus der Drogenszene geworden. Warum ihr niemand aus der Verwandtschaft geholfen habe, fragten nach ihrem Suizid gedankenlos einige Aussenstehende. Um es klarzustellen: Manche aus der Verwandtschaft haben zu helfen versucht, immer wieder, alle nach ihren Möglichkeiten, teils bis zur Verzweiflung, bis an den Rand der Selbstgefährdung.

 

Anmerkung: Der obige Text von Felix Feigenwinter diente als Grundlage für ein Interview von Gerhard Stebler vom Saarländischen Rundfunk nach dem Tod von Adelheid Duvanel mit dem Bruder der Schriftstellerin.

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> Adelheids Reisen ans Meer

> Zwerg Julius und das Riesenfräulein

> Ein schwieriges Leben

 

POSTUME ANERKENNUNG DER MALERIN ADELHEID DUVANEL 

Leserbrief von Felix Feigenwinter,  erschienen am 3. Juni 2016 in der bz / nordwestschweiz, betr.  Artikel von Martina Kuoni  „Wenn der Alltag zum Ungeheuer wird“  in der  „Basellandschaftlichen Zeitung“  vom 21. Mai 2016.

Martina Kuoni sei gedankt für ihr aufmerksames und subtiles Gedenken anlässlich des 80. Geburtstags der in Pratteln und Liestal aufgewachsenen Basler Luchterhand-Autorin Adelheid Duvanel (1936-1996). Ergänzend sei daran erinnert, dass die ebenso aussenseiterische wie bemerkenswerte Schriftstellerin zuerst im Ausland etablierte Anerkennung fand (1984 mit dem Kranichsteiner Literaturpreis), bevor sie in ihrem Heimatland entsprechend geehrt wurde (1987 mit dem Basler Literaturpreis, 1988 mit dem Gesamtwerkspreis der Schweizer Schillerstiftung und 1995 mit dem Gastpreis der Stadt Bern). In seinen Büchern «Die tintenblauen Eidgenossen» (2001) und «Das Kalb vor der Gotthardpost» (2012) reflektierte der Literaturprofessor Peter von Matt postum über die eigenwilligen Geschichten dieser besonderen Repräsentantin der Schweizer Literatur aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als Malerin fand Adelheid Duvanel erst nach ihrem Tod öffentliche Beachtung, zuerst 1997 in einer Gedenkausstellung im Kunstmuseum Solothurn im Rahmen der damaligen Literaturtage, später dann 2009 in der Ausstellung «WÄNDE dünn WIE HAUT», einer umfassenden Präsentation des zeichnerischen und malerischen Werks der Künstlerin im «Museum im Lagerhaus» in St. Gallen, wo die Museumsleiterin Dr. Monika Jagfeld das in Basel ignorierte Werk kompetent analysierte.

Felix Feigenwinter, Basel