Keine grosse Liebe

Von Felix Feigenwinter

Eine grosse Liebe ereigne sich in einem Frauenleben einmal, höchstens zweimal, hatte ihr die Grossmutter eingeschärft, in deren Obhut Frau Braun nach dem Drogentod ihrer heroinsüchtigen Mutter aufgewachsen war. Die Grossmutter hatte ihre grosse Liebe an einen Triebtäter verschwendet. Frau Braun fand Grossmutters Lebenslüge abscheulich. Als Enkelin einer Frau, die ihre Gefühle einem Unwürdigen verschenkte - einem Kinderschänder! - , misstraute sie allen Glücksversprechungen, auch ihren eigenen Gefühlen.

Eines Morgens erreichte sie die Liebeserklärung eines Unbekannten, deren Identität ihr verborgen blieb. Das handbeschriebene Papier, den sie ihrem Briefkasten entnahm, verschwieg Namen und Adresse des Absenders. Erstaunt las sie die Zeilen eines Anonymlings, der sie aus einem Versteck heraus ansprach. Gezielt, doch feige, unfassbar wie ein Gespenst, übergoss er sie.

Da sich der okkulte Verehrer nicht mehr meldete, verflüchtigte sich Frau Brauns Irritation allmählich. War er ein poetisch veranlagter Spassvogel, ein frivoler Spieler, ein leidenschaftlich Besessener? Frau Braun zwang sich, den Vorfall zu vergessen. Das Gedicht, diese wahnwitzige Liebeserklärung eines Unsichtbaren, hatte sie eine Zeitlang in ihrer Handtasche aufbewahrt; von Zeit zu Zeit holte sie es hervor und las es im Stillen.

Als sie noch keinen Wunsch nach einem eigenen Kind verspürte, fuhr sie manchmal in eine fremde Stadt, um Unerwartetes zu erleben. So schlenderte sie einmal durch eine ihr endlos scheinende Geschäftsstrasse einer Metropole und bewunderte die Schaufenster der Bijoutiers.  Plötzlich, wie im Traum, betrat sie einen dieser Läden, betört durch einen besonders prächtigen, selten grossen und strahlenden, in geschmeidiges Gold gefassten Diamanten, der mit keinem Preisschild versehen war. Sogleich erschien ein in aparte Seide gekleideter, dezent parfümierter junger Herr, der sie mit unbewegt freundlicher Miene vom Scheitel bis zur Sohle diskret musterte und sich gleichzeitig in leise süffisantem Ton nach ihrem Begehren erkundigte. Mit stockender, vor Verlegenheit belegter Stimme fragte sie nach dem Preis der im Schaufenster strahlenden Köstlichkeit. Ihre kindliche Verblendung, ihre wahnhafte Begeisterung war angesichts des distinguierten Jünglings  relativiert worden, der aus einer für sie in Wirklichkeit unerreichbaren Welt vor ihr aufgetaucht war. Der feine junge Herr lächelte beharrlich, nun aber eher bedauernd als süffisant, wie ihr schien (er ist eben doch ein kultivierter Mensch mit angenehmen Manieren und vielleicht sogar Herzensbildung, erwog Frau Braun, möglicherweise der Sohn des Geschäftsinhabers). Mit höflicher Stimme sagte er: "Vierundsiebzigtausend". Erschüttert verbeugte sich Frau Braun, flüchtete aus dem Laden, ein unsinniges "Aufwiedersehen!" und "Entschuldigung!" stammelnd; dabei versuchte sie, jeden Blickkontakt mit diesem Prinzen aus dem Reich der Millionäre und Milliardäre zu vermeiden, obwohl er ihr die Türe hielt.

Nach dem Tod ihrer Grossmutter suchte Frau Braun eine andere Wohnung, um quälenden Erinnerungen zu entrinnen. Nachdem sie in ihr neues Heim eingezogen war, eine Dreizimmerwohnung im Haus eines Herrn Tellenbach, erfuhr sie nach und nach Einzelheiten aus der Vergangenheit des neuen Wohnungsvermieters.

Nicht dass sie Tellenbach gefürchtet hätte; dieser grossgewachsene alte Mann  verhielt sich ihr gegenüber vom ersten Tag an korrekt, wie ihr schien, sogar freundlich und hilfsbereit. Doch ihr fehlte die Erfahrung mit einem Menschen, der, wie eine Nachbarin erzählt hatte, seinen Chef umgebracht hatte. Sie war ratlos, wie sie mit ihm umgehen sollte. Anfänglich genierte es sie, ihm im Treppenhaus oder im Garten zu begegnen. Frau Braun arbeitete zu einem bescheidenen Monatslohn in einer Holzofenbäckerei mit angegliedertem Laden, in dem sich auch ein kleines Café befand; dort hatte sie Tellenbach kennengelernt,  und er hatte ihr die Wohnung angeboten.

An einem Vorfrühlingsabend war sie spät von der Arbeit nach Hause gekommen. Immer noch in Schuhen, begoss sie ihre Blumen aus der Plastikkanne, die tagsüber und nachts im Badezimmer die Tropfen aus einem undichten Wasserhahn sammelte. Tellenbach war über den ärgerlichen Defekt informiert; er hatte ihr schon letzte Woche versprochen, für Abhilfe zu sorgen, doch bisher war nichts geschehen. Auf dem Balkon schob sie das Katzenleiterchen zurecht, das der Wind während ihrer Abwesenheit verrückt hatte, in der Hoffnung, ihr von der Grossmutter geerbter, seit Tagen vermisster  Kater würde endlich zurückkehren. Danach zog sie sich ins Wohnzimmer zurück, um fernzusehen. Noch bevor sie den Apparat anstellte, hörte sie vom Fenster her ein Kratzen. Der angelehnte Fensterflügel wurde aufgeschoben - ein Schatten huschte ins Zimmer. "Diamant" sprang zu ihr aufs Sofa, begrüsste sie schnurrend, kitzelte sie mit seinem Barthaar, der Heuchler. Und während sie sich über das Wiedersehen freute, den Kater zärtlich streichelte, schrillte die Wohnungsglocke. Als sie die Tür öffnete, stand Tellenbach vor ihr, einen Werkzeugkasten in der linken Hand schwenkend. In ihrer Euphorie hätte sie den Mann umarmen können (statt dessen lachte sie nur;  sie dachte an die Nachbarin, die ihr erzählt hatte, ihr Mann sei wegen Tellenbach eifersüchtig geworden, nachdem dieser in ihrer Wohnung die Toilette reparieren kam: "Du bewunderst Männer, die Klodeckel flicken können", habe er gegiftelt.) Nachdem Tellenbach den lecken Wasserhahn im Badezimmer dicht gemacht hatte, bat sie ihn ins Wohnzimmer und offerierte ihm ein Glas Wein aus der  Flasche, die er ihr beim Einzug in die Wohnung zur Begrüssung geschenkt hatte.

"Gut, dass Ihr Tier wieder zum Vorschein gekommen ist", meinte er, als er den Kater erblickte, "es hätte mich nicht gewundert, wenn man erzählen würde, der schreckliche Tellenbach habe die Katze eingefangen und als Gulasch verzehrt!"

"So etwas würde ich nie von Ihnen denken!" heuchelte Frau Braun erschrocken.

"Das meine ich auch nicht", begütigte der Gast auf dem Sofa; "ich esse übrigens gar keine Tiere, ich bin überzeugter Vegetarier. Aber sicher hat Ihnen auch schon jemand erzählt, ich hätte als gelernter Zahntechniker eine Bestattungsfirma gegründet, um den Toten das Zahngold aus den Mündern zu klauen?"

"Man munkelt viel", wagte Frau Braun zuzugeben, "etwa, sie hätten früher ihren Lehrmeister getötet."

"Das ist richtig. Das habe ich getan, als junger Mann. Ich erschoss meinen Chef; er war der Besitzer des zahntechnischen Labors, wo ich meine Lehre machte. Der Kerl war ein Sadist. Er hat mich bis aufs Blut gedemütigt. Ich könnte Ihnen den ganzen Roman erzählen, aber was soll's... Ich habe für meine Tat gebüsst, habe einige Jährchen meiner Jugend im Gefängnis verbracht."

Tellenbach schien Wert darauf zu legen, sie davon zu überzeugen, dass er kein Mörder sei, sondern ein Idealist, der leidenschaftlich gegen Unterdrückung und für Gerechtigkeit kämpfe.

Frau Braun war verstummt ob der Bekenntnisse des kauzigen Alten. Tellenbach holte weiter aus: Als ihm jemand seinen Namen "Wilhelm Tellenbach" auf dem Schild seiner Bestattungsfirma mit blutroter Farbe überschmiert und auf "Wilhelm Tell" gekürzt habe, habe er die Schmiererei neben dem Hauseingang absichtlich gelassen, bis zur Liquidation des Betriebs. "Sie können das Schild heute in meiner Wohnung bewundern. Wilhelm Tell! War das ein Mörder?"

Die bizarrste Nacht ihres Lebens durchwachte Frau Braun in den Armen des grauen Heroen, der sie schwängerte. Sie trug das Kind aus, mit stolzer Beharrlichkeit und  Würde, im Glauben, dass sie den verrückten alten Kerl aus dem Dachstock zwar nie heiraten würde, dass er aber sie und ihr Kind nicht im Stich lassen wolle. Dem Alten gegenüber verspürte sie keine Zuneigung, schon gar keine "grosse Liebe", nichts dergleichen; sie verdankte ihm ihr Kind, das genügte. Insgeheim hielt sie sich für eine Geschädigte. Nach heftigen Gefühlen nach einem Mann stand ihr nicht der Sinn.

Doch Tellenbach machte keine Anstalten, für das Kind aufzukommen. Er erklärte ihr, sie sei  selber schuld; er habe nie ein Kind gewollt.