"doppelstab" 1965

 

's Banane Anni - ein Basler Original aus Belluno

Von Felix Feigenwinter


Dreimal scheitert mein Vorhaben, eine der populärsten Frauen in Basel zu sprechen. Das graue Holzhäuschen, in dem die Bananenfrau, fast allen Baslern unter dem Namen "'s Banane Anni" ein Begriff, normalerweise auf dem Claraplatz ihre länglichen gelben Südfrüchte feilbietet, steht alle dreimal einsam und verschlossen da. Beim vierten vergeblichen Besuch frage ich den Verkäufer im nahen Kiosk: "Was isch eigedlig mit dr Bananefrau los?" - "Si het Ferie", beruhigt er mich. Und er sagt mir, dass sie, glaube er, an der Riehentorstrasse wohne; die Hausnummer kenne er allerdings nicht, aber ich solle Anwohner danach fragen - "d'Lüt kenne si alli". 

Die Verkäuferin in einem Laden an der Riehentorstrasse zeigt durchs Schaufenster und sagt: "In sällem Egghuus, wo jetzt säll Auti durefahrt, wohnt 's Banane Anni." Besagtes Gebäude steht an der Kirchgasse und trägt die Hausnummer eins. Ich betätige versuchsweise die unterste Hausglocke. Auf dem Schild steht zwar nicht "Bananenfrau" oder "Banane Anni"; vielmehr lese ich: "A. Bordot". Aber in wenigen Sekunden steht die Gesuchte, die eigentlich Annetta oder Anna Bordot heisst, mit ihrem herzlichen, ein wenig schalkhaften Lachen, dem sympathischen Gesicht und einem farbigen Tuch um den Kopf auf der Türschwelle.


Der Vater war Polizeiwachtmeister

Zuerst wehrt sie lachend ab, nachdem ich ihr mein Vorhaben, sie für den "doppelstab" zu interviewen, erklärt habe - doch dann führt sie mich fröhlich in die Stube ihrer einfachen, aber gemütlich eingerichteten Zweizimmerwohnung und bietet mir einen Stuhl und ein Glas - Bananenlikör an. Sie selber trinke nichts, sagt sie; sie habe das Getränk extra für Besuch angeschafft. Und jetzt beginnt die Frau mit der Erzählung der spannenden Geschichte ihres Lebens. Wenn ich alles wiedergeben wollte, müsste ich einen Fortsetzungsbericht schreiben. Daher sei kurz zusammengefasst: 

Annas Vater - ein italienischer Polizeiwachtmeister, den die Bananenfrau nur von Fotos kennt - starb, als sie zweijährig war. Schon als winziges Mädchen kam sie zu Pflegeeltern in Sedico, Provinz Belluno, denn Anna hatte noch vier Geschwister, und die verwitwete Mutter (Annas Vater starb 38jährig) wäre mit der ganzen hinterbliebenen Kinderschar allein überfordert gewesen.  

Als Kuhhirtin Gras gegessen

Als Anna acht Jahre alt war, musste sie ihr Brot selber verdienen; Kinderarbeit war damals offenbar etwas "Normales"... Barfuss wanderte sie von Dorf zu Dorf und bat bei Bauern um Arbeit. Manchmal hütetete sie Kühe. Ihre damalige Not skizziert sie mit der Bemerkung: "Manggemol atte keine Lohn; manggemol stahl igg Kartoffeln, manggemal ass igg Gras, um niggt zu verhungern. Dort, wo Frosch laufe, abe igg migg gewaschen". 

Als sie etwa zwölf Jahre alt war, kam Anna als armes Hirten- und Bauernmädchen barfuss über die Schweizer Grenze. Jemand hatte ihr gesagt, in der Schweiz sei es leichter, Geld zu verdienen. Mit Tränen in den Augen erinnert sie sich, wie sie von einer Bündner Bauernfamilie vorübergehend aufgenommen wurde. 
 

 Zwei Jahre Klostererziehung

Anschliessend wohnte Anna während zweier Jahre im Kloster von Arbon. Dort lernte sie erstmals schreiben und lesen. Später arbeitete sie in verschiedenen Schweizer Unternehmen, unter anderem als Zwiebel-Putzerin in der Kentaur-Fabrik, in einer Spinnerei-Fabrik im Kanton Waadt sowie in der Lumpen-Fabrik von Winterthur. Durch einen überraschenden Zufall begegnete sie in Winterthur ihrer Mutter, die dort ebenfalls Arbeit gefunden hatte. Durch sie lernte sie einen Basler Lebensmittelhändler kennen, der Anna kurzerhand heiratete.

So kam die junge Italienerin nach Basel, in die Stadt, wo sie auch nach der Scheidung von ihrem Mann (scheint's einem Trunkenbold und Frauenheld) "hängenblieb" und sich als geschiedene Bananenfrau langsam, aber sicher den ehrenvollen Status eines "Basler Originals" erarbeitete. Anna hatte ihren Mann im Ehebett mit einer fremden Frau entdeckt, sofort ihr Köfferchen gepackt und diskussionslos die Scheidung eingereicht. Sie hatte nie mehr Lust, ein zweites Mal zu heiraten.


Kundschaft mit einer Kuhglocke angelockt

Vor 48 Jahren begann Annas Laufbahn als Basler Bananenfrau. Vorerst zog sie mit einem Wagen durch die Strassen und lockte die Kundschaft mit einer Kuhglocke an. Sie verschonte auch nicht das Quartier, in dem ihr geschiedener Mann mit einer anderen Frau lebte. "Mi Maa et sigg geniert. Min Herz fascht sterbe, aber igg nit zeige. So vill Charakter muss me ha!" 

Noch heute, als 75Jährige, hält die Bananenfrau viel von Selbstbeherrschung: "Manggemol bin igg im Bananestand und lagge und dumm due; igg Lüt nid zeige, wenn igg bi druurig. Mi könne kei Lüt sage, seen migg druurig." 

Während 45 Jahren verkaufte Anna morgens auch auf dem Marktplatz ihre Südfrüchte. Seit zwei Jahren sieht man sie aber nur noch auf dem Claraplatz, und auch hier nicht mehr regelmässig. Die Bananenfrau hat eben vier schwere Beinoperationen hinter sich. Das war vor zwei Jahren. Für die Patienten, Schwestern und Ärzte des basellandschaftlichen Kantonsspitals war Annas Anwesenheit eine kleine Sensation; die Popularität der Bananenfrau reicht über die Stadt- und Kantonsgrenze hinaus. Begeistert und gerührt schildert mir Anna das Weihnachtsfest, das sie im Krankenhaus in Liestal erlebte.

Lebensweisheiten am Bananenstand

Die Schaffensfreude der Bananenfrau ist sprichwörtlich. Sie strickte viele hundert Socken für Schweizer Soldaten und arme Leute. Auf dem Tisch sehe ich ein handbeschriebenes Papier. Anna erklärt: "Wenn igg alai bin, igg schreibe solge Ideä. Alles aus mine Lebe."

Ich lese:

"Nur ein selbstloser

Mensch can gans

treu sein."


"Wer sich heute freuen

can der sol nicht

warten bis morgen."


"Geseligcheit ist die

cunst den Umgang mit

sich selbst zu verlernen."


"Dienste und Geschencke

zur rechten Zeit Haben

dopleten vert."


"Wen vir wüste

vie curze das

leben ist vir

vurde uns

gegenseitig

mer frida

machen."


Solche Lebensweisheiten teilt die Bananenfrau den Menschen mit, indem sie sie auf einen Karton schreibt, den sie jeweils an ihrem Bananenstand befestigt. Manchmal, so berichtet Anna, kommen Schulkinder vorbei und machen sie auf die Fehler aufmerksam. "Denn sagge igg: Jo, Maideli, wenn du nagg Italia gunsch, du au Fehler magge."


Gute Beziehung zu Polizei und Regierung

"Es sind alli Liebi in Basel", meint die Bananenfrau, "si wollen mir Holz und Kohle schengge, igg aber sage: nei, igg wolle meine Sagge selber verdiene." Wiederholt wollte man die Bananenfrau auch dazu bewegen, Basler Bürgerin zu werden. Anna Bordot lehnte strikt ab: "Igg sterbe jo do. Mini Knoche gehe auf Hörnli. Aber igg will mine Vater und Vaterland nit verrote. Mine Vater isch Polizeiwachtmeischter gsi." - Anderseits weigert sich Anna, der Einladung ihrer Verwandten Folge zu leisten, sie in Italien zu besuchen. "Als igg vo mine Maa geschieden, mi Mueter seit: du khasch nit nach Italia kho, das wäre eine Schande für Familia. Jetzt will igg mine Mueter im Grab nit ärgere." 

Ihren verstorbenen Vater, den Polizeiwachtmeister, ehrt Anna, indem sie Passivmitglied des Basler Polizei-Chors und der Basler Polizei-Musik ist. 

Aber auch zur Regierung unterhielt und unterhält Anna gute Beziehungen. Der verstorbene Regierungsrat Fritz Brechbühl schickte der Bananenfrau jedes Jahr einen persönlichen Weihnachts- und Neujahrsgruss.