In der Samstag/Sonntagausgabe der „Basler Nachrichten“ vom 2./3. Juli 1962 berichtete Felix Feigenwinter:


In der Postkutsche über den Hauenstein

Von Felix Feigenwinter


"Gestatten Sie?“ Meine Reisebegleiter nicken zustimmend; ich kann die Zigarette mit gutem Gewissen anzünden. Links über meinem Kopf steht auf einem Täfelchen: „Rauchen nur mit Zustimmung aller Fahrgäste gestattet.“ Meine Reisebegleiter sind vier belgische Journalisten; sie folgten Rousseaus Parole „Zurück zur Natur“, welche die Schweizerische Verkehrszentrale neu ausgegeben hatte, und beteiligen sich an der internationalen Kutschen-Sternfahrt, über die in den „Basler Nachrichten“ schon berichtet wurde.

Wirt am Strassenrand

Der erste Halt der neunten Etappe Basel-Solothurn findet laut Fahrplan in Waldenburg statt. (Die Kutsche startete am 23. Mai in Brüssel zur ersten Etappe.) Doch schon nach der ersten Hälfte der Distanz klettern wir vor dem Hotel Engel in Liestal aus unserem Fahrzeug. Der Wirt steht mit gefüllten Weingläsern am Strassenrand, und auch der Liestaler Gemeinderat ist vertreten. „Wir wussten nicht, dass die Kutsche hier durchfährt“, sagt Gemeinderat Dr. Gysler, „erst vor zehn Minuten bekam ich einen Telephonanruf von einem Bauern, der die Kutsche in der Hülftenschanz gesichtet hat. Wir wollten zuerst einen Empfang vor dem Rathaus improvisieren, doch dazu reichte die Zeit nicht mehr."

"Es sieht fast so aus, als ob auch die Pferde Wein getrunken hätten“, meint auf der Weiterfahrt ein Fahrgast; tatsächlich geht die Reise durch das Waldenburgertal schleppender vor sich als auf dem Weg nach Liestal. Den unzähligen Photographen, denen wir unterwegs begegnen, kann dies nur recht sein; und auch die Leute, die wegen des „Tatü-tata“ unseres Posthorns und des fröhlichen Klirrens des Pferdegeschirrs an die Fenster und auf die Strasse eilen, sind froh, wenn die Kutsche nicht schon ausser Sichtweite ist. Und wir, die Fahrgäste, können die Natur, die bunten Wiesen mit den blühenden Bäumen und die rauschenden Wälder, um so besser geniessen. Bei Hölstein bekommt unser Pferdegespann von einem anderen altmodischen Vehikel Gesellschaft. In der Autokolonne, die sich hinter uns staut, taucht plötzlich ein Peugeot aus dem Jahr 1913 auf. Der Besitzer, Fritz Durtschi aus Muttenz, erzählt: „Ich sah die Postkutsche zufällig in Muttenz vorbeifahren und entschloss mich, sie mit meinem alten Peugeot ein bisschen zu begleiten“. Weniger sympathisch wirken jene Automobilisten, die vor Ungeduld fast platzen, wenn sie uns nicht sofort überholen können. Mehrheitlich freilich wird uns begeistert zugewinkt; aus den vorbeifahrenden Autos tauchen oft Köpfe mit Photoapparaten auf. „In der Schweiz sind die Automobilisten geduldiger als in Belgien“, findet Monsieur Breyne von der belgischen Zeitung „De Nieuwe Gids“; er ist der einzige Fahrgast, der die Kutsche schon in Brüssel bestiegen hat.

Die Pferde husten

In Niederdorf gibt es einen neuen unvorgesehenen Halt; die Bevölkerung begrüsst uns hier besonders herzlich. „Wir haben gestern abend am Radio die Reportage gehört“, sagt eine Frau. Wir verteilen Bonbons an die Kinder. Ein Knabe streckt die Hand hin und behauptet: „I ha no kei Täfeli becho.“ Darauf Maurice Torfs aus Brüssel: „Aber isch abe Ihnen dosch schon eine gegeben“. Der Knabe: „Jo, aber i ha no e chleis Schweschterli“. Etwas später derselbe Knabe mit derselben hohlen Hand: „D'Grossmueter und dr Grossvatter wei au eis!“ - Bis Waldenburg erleben wir eine wahre Triumphfahrt: Kinder rennen hinter der Kutsche her, und am Strassenrand und aus den Fenstern winken und applaudieren jung und alt.

Unser Postillon, Dr. Paul Wirth, der hauptberuflich Schraubenfabrikant ist, schaut besorgt zum Himmel. Graue Regenwolken sind zu sehen. „Die Pferde husten; hoffentlich gibt es keinen Regen. Gestern war der erste schöne Tag unserer Reise; sonst hat es immer geregnet.“

Unsere vier Pferde stehen jetzt auf dem Waldenburger Schulhausplatz; am Nachmittag werden sie von vier anderen abgelöst, die zusammen mit einem Ersatzpferd (für den Fall, dass eines der Pferde erkrankt) in einem Lastwagen vorausgefahren wurden. Kutscher Ruedi Wirth, der Sohn des Postillon, ist für das Futter verantwortlich. Ich erfahre von ihm, dass ein Pferd mindestens fünfzehn Liter Hafer im Tag vertilgt. Überdies fahren im Lastwagen nebst dem Futter drei Ersatzkutscher mit; einer ist Hufschmied. „Bis jetzt musste ich erst ein Hufeisen ersetzen“, erzählt er mir. Betonstrassen seien für die Pferdehufe und die Tiere selbst nicht ideal.

 Blumen, Wein und Gästebuch

Was der Postillon befürchtet hatte, ist eingetreten: Wir fahren im Regen über den Hauenstein. Aber die Erinnerung an das vorzügliche Mittagessen in Waldenburg und die Ovation der Leute auf der Strecke lassen uns das ungemütliche Wetter vergessen. Blumen werden uns ins Coupé gereicht; eine Baslerin schenkt uns eine Flasche Wein. In einem Gasthof in Langenbruck gibt es einen Ehrentrunk; wir müssen uns ins Gästebuch einschreiben. In Oensingen werden die Pferde noch einmal ausgewechselt, und der Gemeindepräsident lädt uns im Namen des Gemeinderates zu einem Imbiss ein.

Darauf fährt der Postwagen weiter, zum letzten Nachtquartier in Solothurn. Am nächsten Tag trifft er in Neuenstadt mit den Gefährten aus Paris, Lyon, Frankfurt, München und Mailand zusammen.

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