Das Konzert der Barfüßer

Von Felix Feigenwinter

 

Unter offenem Himmel liebkosen barfüssige Sänger in zerfledderten Kleidern ihre Musikinstrumente; rauhe, zärtliche Stimmen bejubeln die rhythmischen Klänge und verzaubern einen Platz, an dessen Rand sich Samstagsnachmittagskonsumenten in Freizeitbekleidung auf hohen Stühlen in einem Strassencafé räkeln. Obwohl es Herbst ist, Mitte Oktober, bestrahlt sommerliches Licht die gotische Fassade der Barfüßerkirche, die jetzt ein Museum beherbergt, wo das Gebein keltischer Ureinwohner zu besichtigen ist. Valentin hat die exotische Gruppe durchs Tramfenster entdeckt. Er war unterwegs zum ziemlich öden Vorstadtquartier, wo er wohnt, bepackt mit einer Einkaufstasche eines Supermarktes, und er stieg hastig aus. Jetzt versteckt er sich zwischen den Cafégästen, die den Straßenmusikern blasiert applaudieren und ein wenig Geld locker machen. Gebannt lauscht er der fremdländischen Musik, die so leidenschaftlich an seine Seele pocht, dass sie zu zerbersten droht. Gegenüber, hinter den Musikern, auf der breiten Steintreppe, die zur Kirche führt, feiert ein jüngeres Publikum den ekstatischen Jubel, sich versonnen im Rhythmus wiegend - ein bewegter bunter Haufen. Mitten drin sieht er eine Frau - sie lächelt und winkt ihm zu. Valentin grüßt zurück, gar zart, geradezu scheu, ja greisenhaft verklärt, wie ihn selber dünkt.

Eine Stunde mag er andächtig gehorcht haben. Wieder und wieder sucht sein versunkener Blick die Zauberin - vergeblich. Unbemerkt muss sie aufgestanden, weitergezogen sein. Das Sonnenlicht weicht von der Kirchenfassade, das Himmelsgewölbe erblasst; die Musik der Barfüsser ist verstummt. Ein Schwarm Vögel flattert über den verlassenen Platz und verliert sich auf den Dächern. Valentin stellt sich vor, Tauben würden von einem Turmfalken gejagt. Er fröstelt, will aufstehen, doch Schmerzen lassen ihn zurücksinken. Seit Wochen plagen ihn rheumatische Anfälle. Arbeitskollegen empfahlen ihm, einen Arzt aufzusuchen, aber die Anmeldung hat er immer wieder aufgeschoben. An seinem Arbeitsplatz im Büro hängt ein bebilderter Zeitungsausschnitt mit der Überschrift: "Entspannungsübungen: Unauffälliges Turnen im Büro." Ächzend schleppt er sich und die Einkaufstasche zur Haltestelle. Die Arthritis brennt und sticht, aber er denkt: Lieber spüre ich sie, als dass ich mich von Tabletten betäuben lasse! Die Melodien der Straßenmusiker klingen in ihm nach, berauschen immer noch seine Sinne. "Der Schmerz ist meine zuverlässige Geliebte", summt er, halb verzückt, halb verzweifelt improvisierend. Die eisigen Blicke eines Ehepaars lassen ihn jäh verstummen, das Lied droht in der Kälte zu erstarren. Auf der Traminsel stößt er mit einer gehbehinderten Frau zusammen, der er, humpelnd auch er, nicht rechtzeitig ausweichen kann. Valentin verbeugt sich ungelenk, stammelt eine Entschuldigung. "Ach was", krächzt die Greisin und klopft ihm mit ihrem Stock gegen den Bauch, "so spüre ich mich wenigstens, weiß ich, dass ich noch lebe."

Das Tram fährt vor. Mit leidender Miene müht sich Valentin hinein, lässt sich auf einen Sitz fallen. Bewegungslos würde er sich durch die Strassen flitzen lassen, immer wieder neue Passagiere würden zusteigen, alte würden ihn verlassen, und staunend würde er von Endstation zu Endstation sausen bis tief in die Nacht hinein... das könnte interessanter werden als ein Fernsehfilm! Aber es ist Herbst, und das Rheuma erheischt Pflege; das Übernachten im Tramdepot kann kein Ziel sein. Die Barfüßer steigen ein und eröffnen einen musikalischen Wirbel. Valentin zieht Schuhe und Socken aus, die Schmerzen scheinen verflogen. Seine nackten Füße klatschen auf den platten Boden, der Körper zuckt besessen zu den wilden Rhythmen der Fremden, die des Tanzenden Ekstase lachend, singend und schreiend begleiten.

Wie lange das gespenstische Treiben im Tramanhänger währte, ist ungewiss. Der Tramführer jedenfalls will nichts bemerkt haben. Sicher ist nur, dass er nach Mitternacht, als er im Depot nach Abschluss der Fahrt im Spätdienst einen letzten Kontrollgang durchführte, den Mann im Anhänger am Boden liegend fand. Der Tod sei durch Herzinfarkt eingetreten, hielt später der Arzt fest, der die Leiche im gerichtmedizinischen Institut obduzierte. Über den Freudentaumel stand nichts im medizinischen Bericht.

 

(Geschrieben 1995)