Ankündigung im Herrenzimmer

Von Felix Feigenwinter

 

Als der Sohn am Abend in die Wohnung seiner Eltern kam, die er seit seinem Auszug vor vielen Jahren nur noch selten besuchte, betrat er vorsichtig das Herrenzimmer seines Vaters und schnupperte den süsslichen Duft angefaulter Aepfel. Seit langem wunderte er sich, warum dieser Raum von den Eltern  "Herrenzimmer" genannt wurde (Vater hielt sich darin auf; Herren hatten sich hier aber nie versammelt). Die gedrungene Gestalt verharrte am Schreibtisch vor dem Fenster, im abendlichen Gegenlicht wirkte sie wie ein unheimliches, geducktes Tier. Erst als der Sohn nähertrat, bemerkte er, dass der alte Mann eingeschlafen war; er atmete schwer, schnarchte leise vor sich hin, den Kopf zwischen beiden Fäusten festgehalten, die wie Klumpen aus den Armen hervorgekrochen schienen. Auf dem Pult sah der Sohn die Insulinspritze liegen, die der zuckerkranke Vater regelmässig benützte, daneben einen Kugelschreiber und ein beschriebenes Blatt Papier; der Vater hatte  einen Leserbrief an die Lokalzeitung entworfen, einen Diskussionsbeitrag zu einem lokalen Streitthema, eine Erinnerung an frühere Kämpfe. Neben dem Briefentwurf stand ein leeres Trinkglas, dahinter das braune Fläschchen, aus dem der Vater von Zeit zu Zeit Tropfen zur "Anregung und Normalisierung der sekretorischen Funktionen im Magen-Darm-Gallen-Bereich" zu sich nahm, da er sich davon Linderung seiner chronischen Gastritis erhoffte, schon seit Jahrzehnten, wie es dem Sohn schien. In Griffnähe stand die Obstschale, die vier zum Teil schon angefaulte Aepfel enthielt; eine der Früchte war angebissen, das künstliche Gebiss zeichnete sich im Fruchtfleisch wie ein Mahnmal ab. Der Sohn erinnerte sich, dass Vater früher einmal vergessen hatte, für eine wichtige Versammlung, wo er hätte reden sollen, sein Gebiss anzuziehen - zahnlos war er zur Veranstaltung gefahren. Erst im Versammlungsraum wurde er sich des Mangels bewusst, und er flüchtete panisch nach Hause.

Noch ehe es der Sohn verhindern konnte, rutschte ein Arm des Vaters zur Seite, und die Stirn prallte seitwärts auf die Briefskizze auf dem Schreibtisch. Der alte Mann fuhr auf, lächelte verlegen, als er den Sohn im Abenddämmer entdeckte. "Ist was?" fragte er leise. In diesem Moment betrat die Mutter das Herrenzimmer und drückte auf den Lichtschalter. Des Vaters Kopf schien nun zu schrumpfen; aus dem runzeligen Gesicht blinzelte es treuherzig ins Helle.

"Es ist etwas vorgefallen, ich muss Euch eine Veränderung ankündigen" antwortete der Sohn (er wunderte sich, mit welch' ruhiger und tiefer Stimme er plötzlich sprach), "Ihr müsst hier ausziehen, der  Hausbesitzer hat Euch gekündigt. Das Haus wird abgebrochen. Ich werde Euch fürs Altersheim anmelden!"

Die starken Worte des Sohnes bewegten die Eltern. Die Mutter wich zum Vater, umklammerte mit beiden Händen dessen Schultern.

Der Sohn glaubte, zwei alte Kinder zu sehen, die ihrem Schicksal sprachlos ausgeliefert schienen.

 

(Geschrieben 2006)