Augenschein in der Strafanstalt Liestal und Gespräch mit dem Gefängnisdirektor über den modernen Strafvollzug.

Diese Reportage erschien 1968 im „doppelstab“.


Heilen statt Strafen

Von Felix Feigenwinter

Der Blick durchs Gitterfenster auf die hohe, die ganze Liegenschaft umzäumende graue Mauer ist deprimierend, vermittelt das Gefühl von engem Eingesperrtsein. Aber nach der freundlichen Begrüssung durch den Strafanstaltsdirektor, der mich nun fröhlich plaudernd und referierend ins Innere des veralteten Gefängnishauses führt, schwindet die Beklemmung. “Ich sehe die Gitterstäbe schon gar nicht mehr“, beteuert Direktor Max Abt und beschwichtigt meine Befürchtung, dass „gesiebte Luft“ auf die Dauer Depressionen hervorrufe; „In meiner nun schon elfjährigen Tätigkeit als Gefängnisdirektor habe ich mich daran gewöhnt.“

Vorurteile der Gesellschaft

Das Leben mit den Gefangenen ist für Max Abt etwas Alltägliches geworden. Umso mehr fällt ihm auf, wenn Aussenstehende den Strafvollzug als Tabu betrachten.

Ich habe mir in letzter Zeit viele Gedanken darüber gemacht, denn es ist für uns unangenehm, wenn wir im Kontakt mit der 'Aussenwelt' immer wieder auf mangelndes Verständnis, sogar Ablehnung stossen. Offenbar spielen da immer noch mittelalterliche Vorurteile eine Rolle. Im Mittelalter hatte ja der Scharfrichter einen grauenhaften Auftrag der Gesellschaft zu erfüllen: Er musste Gesetzesbrecher köpfen. Darum war er verfemt. Dieses Odium ist offenbar bei allen, die sich mit Strafgefangenen befassen, hängengeblieben. Das ist sehr bedauerlich. Denn heute ist die Strafe nicht mehr eine Vergeltung im alttestamentarischen Sinn 'Auge um Auge, Zahn um Zahn', sondern in erster Linie eine bessernde – oder sagen wir ruhig – eine heilende Massnahme. Ähnlich wie ein Chirurg einen Beinbruch oder der Psychiater eine Neurose heilt, versuchen wir, mit dem Gesetz in Konflikt gekommene Menschen zu heilen – sie auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten, damit sie nützliche Glieder der Gesellschaft werden können.“

Max Abt betont, dass diese Erkenntnis seit 1942 – also seit nun schon 26 Jahren – im Schweizerischen Strafgesetzbuch verankert ist. Der entsprechende Artikel 37, Absatz 1, bestimmt:

"Der Vollzug der Zuchthaus- und Gefängisstrafen soll erziehend auf die Gefangenen einwirken und sie auf den Wiedereintritt in das bürgerliche Leben vorbereiten. Die Anstaltsordnungen regeln Voraussetzungen und Umfang der Erleichterungen, die stufenweise den Gefangenen gewährt werden können.“

Trennung zwischen erstmals Bestraften und Rückfälligen

Um das Ziel des modernen Strafvollzugs besser zu erreichen, verlangt das Gesetz, dass Zuchthausstrafen, Gefängnisstrafen, Verwahrung, Arbeitserziehung sowie administrative Versorgung getrennt erfolgen. Dadurch soll eine ungünstige gegenseitige Beeinflussung von zum Teil aus sehr verschiedenen Gründen Inhaftierten vermieden werden. Gleichzeitig ergeben diese Trennungen natürlich auch die Möglichkeit einer individuelleren und dadurch erfolgreicheren erzieherischen Behandlung der Gefangenen. Nachträglich wurde das Gesetz ergänzt, nachdem sich in der Praxis erwiesen hat, dass auch eine Trennung zwischen erstmals Bestraften und Rückfälligen Sinn macht.

Arxhof im Herbst 1970 bezugsbereit?

Vorläufig bleibt der moderne Strafvollzug, wie ihn der Gesetzgeber wünscht, freilich weitgehend Theorie, er kann praktisch noch nicht überall durchgeführt werden – weil noch nicht alle Bauten erstellt sind, die eine Separierung der verschiedenen Gefangenengruppen erst ermöglichen. Seit Jahren wartet Abt, der den Posten des Strafanstaltsdirektor vor über zehn Jahren im Hinblick auf die Arbeitserziehung übernommen hatte, auf den Bau der Arbeitserziehungsanstalt Arxhof in Niederdorf. Wie zum Trost hängen in seinem Büro die Pläne für dieses 9,8 Millionen-Bauvorhaben, das der Bund siebzigprozentig subventioniert. Anfangs Oktober 1968 konnten die Bauarbeiten nach Überwindung vieler Hindernisse und Widerwärtigkeiten endlich begonnen werden. Nun hofft Herr Abt, dass diese neue Anstalt im Herbst 1970 bezogen werden kann. Der „Arxhof“ ist ein wesentlicher Mosaikstein in der getrennten Organisation des neuen Strafvollzugs. Da natürlich nicht jeder Kanton mehrere Anstalten bauen kann und soll, schlossen sie sich zusammen, und zwar zum Zentral- und Nordwestschweizer Konkordat, zum Ostschweizer Konkordat (zu dem auch Zürich, Graubünden und Schaffhausen gehören) sowie zum Westschweizer Konkordat (Welsche Schweiz und Tessin). Max Abt betont: „Die Arbeitserziehung ist die hoffnungsvollste Aufgabe im Strafvollzug.“
 

Das Übel an der Wurzel anfassen

Die Massnahme der Arbeitserziehung werde verfügt, so höre ich, „wenn der Richter zur Auffassung gelangt, ein junger Delinquent sei auf Abwege geraten, weil er nie arbeiten gelernt hat. Da wird das Übel an der Wurzel angefasst, und der Gesetzesbrecher wird statt ins Gefängnis in die Arbeitzserziehung eingewiesen. Die Vollzugs- oder Anlehrorgane bekommen dann den Auftrag, ihren Schützling eine Berufslehre absolvieren zu lassen“. Die Arbeitserziehung ist für Achtzehn- bis höchstens Dreissigjährige vorgesehen. Es handelt sich um eine typische Massnahme des modernen Strafvollzugs, der vor allem jungen Straftätern grössere Chancen zur Besserung einräumt als die alten Methoden.

Vom Holzschopf bis zur Bibliothek

Solange der „Arxhof“ und andere nötige Anstalten nur auf dem Planpapier bestehen, bleibt der moderne Strafvollzug indessen wie gesagt reine Theorie. Direktor Abt bestätigt, dass die Strafgerichte entgegen den gesetzlichen Grundlagen vorläufig selten Arbeitserziehung verfügen, da diese noch nicht gesetzeskonform durchgeführt werden kann. Dennoch versucht Abt, die Reformen im alten, ziemlich düster wirkenden Gefängnishaus nach Möglichkeit wenigstens in Ansätzen durchzuführen und den neuen Geist gegenüber den ihm Anvertrauten spürbar zu machen. „Natürlich wäre es bequemer, wenn wir nur ein Gewerbe, zum Beispiel den Holzschopf, hätten, mit dem wir unsere Insassen beschäftigen können. Aber das wäre gar nicht im Sinne des Erziehungs-Strafvollzugs. Deshalb bemühen wir uns, jeden entsprechend seinen individuellen Möglichkeiten auf ein Leben in Freiheit vorzubereiten – in der Schreinerei, in der Landwirtschaft, im Holzschopf, in der Schlosserei, in der Mechanik oder in anderen betriebseigenen Werkstätten...“
 

Meine Zwischenfrage: „Und die intellektuellen Gefangenen...?“

Für die haben wir Beschäftigung in unserer Bibliothek“, sagt Abt.

Dass es sich aber manchmal erst nach einiger Zeit erweist, welche Arbeit für welchen Gefangenen am geeignetsten ist, verdeutlicht er mit einem Beispiel:

Wir hatten einen grobschlächtig aussehenden Ungarn, den wir zuerst für grobe Arbeiten im Holzschopf einsetzten. Wegen eines Unfalls wurde er dann aber der Montageabteilung zugeteilt. Und hier zeigte es sich, dass er ein ganz besonderes Geschick für feinmotorische Präzisionsarbeiten entwickelte. Wir machen manchmal überraschende Erfahrungen. Man muss die Leute sorgfältig beobachten, um sie wirklich kennenzulernen und ihnen helfen zu können.“

Die Forderung nach qualitativ und quantitativ hochstehender Arbeit, die der Leistung in der „freien Welt“ entspricht, bedingen jedoch Arbeitsmethoden und Einrichtungen, die mit jener der Wirtschaft und Industrie, wo die Gefangenen nach ihrer Entlassung arbeiten sollten, Schritt halten.

Kinderbettchen in der Freizeit

Jene Gefangenen, deren Leistungen während des obligatorischen Werkens als zufriedenstellend bewertet werden, können abends die Freizeitwerkstatt benützen. Da werden unter anderem Spielzeuge gebastelt, auch Kinderbettchen gezimmert. Die Direktion vermittelt persönliche Freizeitarbeit, die besonders honoriert wird. Die Hälfte derartigen Freizeit-Lohnes muss allerdings für die Tilgung eventuell vorhandener Schulden (Gerichtskosten, Alimente usw.) verwendet werden.

Eine Familie ist mehr als eine Tank- und Schlafstelle

"Vom soziologischen Standpunkt aus sehen wir die Ursachenkette, die einen Menschen zur Kriminalität führen kann“, erklärt Max Abt im weiteren Verlauf unseres Gesprächs, „aber wir sehen auch, dass der einzelne Mensch die Verantwortung für sein Handeln hat.“

Abends erfüllt der Strafanstaltsdirektor seine wohl anspruchvollste Berufsaufgabe. Dann empfängt er nämlich Gefangene in seinem Büro. Solche Audienzen sind – neben den seelsorgerischen Aussprachen mit den Anstaltsgeistlichen – für die Gefangenen ebenso wesentlich wie die strenge, praktische Erziehung zur Disziplin und Ordnung durch Werkmeister und Aufseher. Auf die skeptische Frage: „Und wenn Sie dann jeweils abends allein in Ihrem Büro einen Gewaltsverbrecher empfangen, beschleicht Sie dann manchmal nicht auch ein wenig Angst?“ erwidert mein Gesprächspartner fast erstaunt: „Aber wieso denn? Zwei Menschen sitzen einander gegenüber – was soll daran beängstigend sein?“

Auf dem Tisch des Warteraums in der Strafanstalt liegt eine Broschüre mit dem Titel „Jeder von uns hat ein volles Konto an Liebe“ auf. Ich lese darin:

Bei vielen Familien ist 'alles in Ordnung'. Jeder ist allein mit sich selbst beschäftigt. Das sind die ersten Zeichen für den komplizierten Bruch der Mannschaft mit der Mannschaft mit dem Namen 'Familie'. Eine Familie ist mehr als eine Tank- und Schlafstelle. Sie braucht Aussprache und gemeinsame Freunde. Dann hält sie auch Belastungen stand. Zusammenhalt ist sofort da, wenn jeder Verständnis für den anderen aufbringt.“ Und: „Es gibt Kinder, die frei und ungebunden zu leben scheinen – aber ihre Freiheit in der Einsamkeit ist nur eine Art von Einzelhaft. Sie jagen voller Traurigkeit und Angst zwischen bösen Erinnerungen her. Oft 'haben sie ja auch alles' – aber aus Pflicht ohne Liebe. Ihren Hass gegen die Welt der Erwachsenen kann nur die Liebe auftauen. Bevor sie nicht wissen, dass sie geliebt werden, kann auch niemand von ihnen Liebe erwarten.“