Der brüllende Zoodirektor

Von Felix Feigenwinter

Es war ein sonniger, strahlender, aber keinesfalls tropischer Tag. Ein lindes Windchen durchlüftete die Sonnenwärme. Kein Hitzestau, keine hundstägliche Bewusstseinstrübung war nachzuweisen. Die Sonne stach nicht, sie schien vielmehr freundlich und mild, verhielt sich gewissermassen mitteleuropäisch-zivilisiert. 

Abgründiges, Erschreckendes hatten die vernünftigen Organisatoren schon bei der Planung des Rundgangs durch den Zoo ausgeschlossen: Die Raubtierkäfige mit der manchmal wild knurrenden und zähnefletschenden Löwin Yolanda wurden bewusst umgangen. Die Kinderschar durfte so putzige Tierchen wie Zwergziegen und Hängebauchschweine, Waschbären und Erdmännchen bewundern. Weiter ging's zu den Pinguinen, zum Affenfelsen, und schliesslich blieb der muntere Besuchertrupp vor dem Gehege jener schmucken Steppenpferdchen stehen, die Zebras genannt werden. Die Idylle schien abgerundet zu sein.

Da meldete sich ein vielleicht siebenjähriger Knirps, der Kleinste unter den Kindern. Er hatte schon bei den Erdmännchen eifrig aufgestreckt und da wohl auch den Begriff "Aasfresser" aufgeschnappt. Nun wollte er vom auskunftswilligen Vertreter des Zoologischen Gartens wissen: "Sind Zebras Aasfresser?" - "Nein, Grasfresser", belehrte der Zooangestellte, und er schilderte geduldig die Existenzbedingungen der gestreiften Vierbeiner im heimatlichen Afrika. Der Knirps wollte noch mehr erfahren: "Können Zebras schnell klettern?" - "Klettern?" stutzte der Zoomensch, verblüfft über die exotische Fragestellung, "die leben ja nicht im Gebirge wie zum Beispiel die Steinböcke. Sie müssen also gar nicht klettern!" - Doch der Bub beharrte auf seiner Vorstellung: "Wie klettern sie denn das Leiterchen hoch?" Er zeigte zum Häuschen im Gehege, wo tatsächlich eine Leiter zu einer Maueröffnung in der Höhe führte. - "Ach so, das meinst du", begriff der Zoomensch, "die Leiter ist für die Wärter!" - "Sind sie Aasfresser?" fragte der Knirps ebenso stereotyp wie ernsthaft. - "Das hast du doch schon gefragt, und ich habe gesagt, die Zebras fressen Gras", erwiderte der nun doch etwas ungeduldig gewordene Zoomensch. - "Nicht die Zebras, die Wärter meine ich", präzisierte der Knirps. - "Die Wärter?!" rief nun der Zoomensch einigermassen verstört, "ja Herrschaft - was essen die Wärter? Spiegelei und Rösti. Salat. Nudeln. Birchermüesli. Auch mal eine Wurst oder ein Kotelett. Nichts Besonderes, wie wir alle..." 

Der Zoomensch begann sich wieder auf seine eigentliche Aufgabe zu besinnen. "Die Fragestunde ist hiermit beendet", verkündete er, "ich hoffe, es hat euch allen gefallen! Der Verkehrsverein offeriert nun noch jedem von euch einen kleinen Imbiss." Und er führte die Kinderschar ins Zoorestaurant.

Doch die Lernbegierde des Knirpses war damit noch keineswegs gestillt. Beim Birchermüesli-Schmaus liess er sich erklären, wer die Tiere wie einfängt und in den Zoo bringt. Und er wollte wissen, wo der Zoodirektor wohnt. Vielleicht im Häuschen im Zebragehege, in das der Wärter über die Leiter klettert? - "Nein, nein, in einer normalen Menschenwohnung, wie wir alle", versicherte der Zoomensch. - "Wie sieht der Direktor aus?" forschte der Knirps weiter. Um Missverständnisse über das Aussehen eines Zoodirektors ein für allemal zu zerstreuen (etwa phantastische Vorstellungen über ein gerüsseltes, gehörntes, gehuftes oder ähnlich märchenhaftes Wesen), fasste der Zooangestellte die günstige Gelegenheit beim Schopf und wies zur lauschigen Ecke des Zoorestaurants, wo zufällig der Zoodirektor mit seiner Gattin an festlich gedecktem Tisch sass. "Der Herr, den ihr dort mit seiner Frau seht, ist unser Zoodirektor. Ein ganz normaler Mann!" erklärte der Angestellte mit angemessen respektvoll gedämpfter Stimme.

"Was isst der Direktor?" war nun die nächste Erkundigung des nimmermüden Fragestellers. Darauf blieb der allzu strapazierte Zooangestellte eine Antwort schuldig. Eine unverständliche Ausrede murmelnd, flüchtete er hastig hinter die Toilettentür. Hier erst, am stillen Oertchen, platzte ihm der Kragen: "Himmelarschundschtärneaffebrunzundelefanteschyssdräggnoonemool!" (*) hallte seine fluchende Stimme durchs Pissoir, "eine solche Nervensäge wie dieses penetrant fragende Kind ist mir in meinem ganzen bisherigen Leben noch nie begegnet!" 

Es gibt aber immer noch aufmerksames Restaurationspersonal. Die Serviertochter verriet den Kindern, was der Direktor bestellt hatte: "Rehrücken!" 

Wen wundert's, dass nun die ganze Kinderschar neugierig zur Tafel starrte, wo der Zoodirektor mit seiner Frau offenbar gerade einen Geburtstag, ein Hochzeitsjubiläum oder ein anderes festliches Ereignis feierte. Der Oberkellner schleppte ein Silbertablett herbei, auf dem tatsächlich ein köstlich garnierter Rehrücken lag. 

"Ein Aasfresser!" staunte der Knirps. In diesem Augenblick überwältigte den Zoodirektor ein behagliches Gähnen, und noch bevor er seinen breit geöffneten Mund mit vorgehaltener Handfläche diskret verdecken konnte, drang durchs offene Fenster aus dem angrenzenden Raubtiergeviert ein fürchterliches Gebrüll.    

Yolanda hatte gesprochen! Für die Birchermüesli essenden Kinder freilich sah es so aus, als ob der Zoodirektor höchstpersönlich gebrüllt hätte. Und so wurde der Rehrücken speisende Direktor zum beeindruckendsten Erlebnis ihres Zoobesuchs.

 

(*) baseldytsch. (Himmelarschundsternenaffenurinundelefantenscheissdrecknocheinmal)

(Diese Geschichte ist am 12. August 1986 im "Nebelspalter" erschienen)