"doppelstab" 9. Oktober 1970

 

"Seelische Ablagerungen"

an der Klagemauer am Barfüsserplatz

Von Felix Feigenwinter 

 

Das Problem ist nicht neu: Bereits vor vier Monaten waren die jungen Leute, die auf der sogenannten Klagemauer beim Barfüsserplatz rasten, plaudern, schmusen und zuweilen übernachten, Mittelpunkt einer öffentlichen Auseinandersetzung, die auch in Leserbriefen zum Ausdruck kam. Damals entsetzten sich ordnungsliebende Baslerinnen und Basler, dass "die Hippies" die Mauer und den Platz vor der Barfüsserkirche nicht nur mit sich selber belagern, sondern ausserdem mit leeren Milchtüten, Obststeinen, zerschlagenen oder ganzen Bier- und Coca-Cola-Flaschen, Banenschalen und anderem Müll verunstalten und diesen Abfall beim Verlassen der zentral gelegenen Allmend vor der historischen Barfüsserkirche nicht wegräumen. Ein Mitglied des Bürgerrates verglich diese Jugendlichen barsch mit Schweinen. Zarter, mit mehr pädagogischer Sensibilität versuchte die Kunstmalerin Guggum Roth, Mutter eines erwachsenen Sohnes, dem Übel beizukommen, indem sie eines Abends bei der Klagemauer erschien, um den jungen Leuten an Ort und Stelle privat ins Gewissen zu reden - mit dem Erfolg, dass sie für eine Polizistin gehalten wurde.

Dass es sich bei dem auf und neben der "Klagemauer" deponierten Dreck gewissermassen um "seelische Ablagerungen" handelt (wie es Guggum Roth formulierte), können psychologisch und soziologisch reflektierende Erwachsene nachvollziehen. Dennoch finden viele, einen solchen öffentlichen "Schweinestall" zu tolerieren sei aus ästhetischen und hygienischen Gründen unzumutbar und auch erzieherisch unklug.

Inzwischen ist nun der Herbst ins Land, in die Stadt und also auch auf die Klagemauer gezogen. Manche Jugendliche, die auf der Klagemauer sozusagen übersommert haben, scheuen die tieferen Temperaturen und die garstigen Regenwinde. Nur noch vereinzelt liegen Marronitüten, Würstchenkartons, Obstreste und Zigarettenpäcklein am Boden vor der Barfüsserkirche. Herbstlaub fällt. Vielleicht die Gelegenheit, einen kleinen "Überblick" zu versuchen?

Ironischer Humor statt polternde Mahnungen

In einem Gespräch mit Paul Steinegger will ich Erfahrungen und Ansichten jenes Mannes erkunden, der mit den Jungen auf der Klagemauer aus beruflichen Gründen relativ engen und häufigen Kontakt pflegt: Der Abwart der Barfüsserkirche bzw. des darin untergebrachten Historischen Museums muss täglich die "seelischen Ablagerungen" vor der Kirche wegwischen. Kaum bin ich mit Herrn Steinegger an seinem Arbeitssort ins Gespräch gekommen, betreten zwei weibliche Teenager das Museum und fragen den Abwart, wo im Museum ein Spinnrad zu finden sei, das sie für die Schule abzeichnen müssten.

Paul Steinegger weist ihnen den Weg. Kurz darauf erscheinen die beiden Schülerinnen erneut: "Hänn-si kai Hoor?" Der Abwart kann ein Lachen nicht verkneifen. "Hoor hän-dr jo gnueg" antwortet er angesichts der langhaarigen Mädchen. Dann begleitet er sie zum Spinnrad und zeigt ihnen, wie das fehlende "Haar" (gemeint ist der Faserknäuel, genannt Spinnrocken) aussieht und wie es zu zeichnen ist. Der Umgang mit jungen Leuten - meistens eben mit jenen, welche die Klagemauer belagern und deren "Dreck" er mindestens einmal täglich wegwischen muss - gehört zu Steineggers Arbeitsalltag. "Am Mittwoch, wenn der Eintritt gratis ist, kommen sie manchmal ins Museum", erzählt er; "besonders, wenn es draussen kalt ist oder regnet. Es ist auch schon vorgekommen, dass der eine oder andere Jüngling alkoholisiert war - dann muss man sie natürlich scharf im Auge behalten und schauen, dass sie nichts 'anstellen' und keine anderen Besucher belästigen..."

Denselben humorvollen Ton, dieselbe Gelassenheit pflegt Steinegger bei den oft unumgänglichen Diskussionen über die Reinhaltung bzw. Verschmutzung des Areals vor dem Museum. So "drohte" er einem jungen Mann, der lässig einen grossen Papiersack zu Boden fallen liess: "Wenn du das nicht aufhebst, so hebe ich es auf!" Oder einer Gruppe, die den Strebpfeiler des gotischen Baudenkmals für Zielübungen mit Flaschen auserkoren hatte, spendete er das Lob: "Ich bewundere euren Mut!" Solcher Witz bewirke mehr als zornige und polternde Mahnungen.

BVB-Bussenzettel und Stellmesser

Die Jungen wissen Herrn Steineggers Mentalität zu schätzen. Sie vertrauen ihm zum Beispiel Schallplatten zum Aufbewahren an. Im "Depot" bei der Museumskasse finden sich allerdings auch unfreiwillige "Leihgaben": Fundgegenstände, die der Abwart beim Wischen aufgelesen hat. So bekomme ich etwa eine modische Tasche mitsamt Ausweisportrait eines langhaarigen Jünglings namens Tony und dessen Besitz zu sehen - nämlich:

Drei Empfangsbescheinigungen für Bussenzettel der Basler Verkehrsbetriebe; ein persönliches Wochenabonnement; zwei spitze Messer, eines ist ein Stellmesser; ein grosser Büchsenöffner; eine Spitzzange; drei Filzstifte; vier Kugelschreiber; zwei Spulen mit Garn.

Kostümfest

Eine besondere Freude scheint Paul Steinegger an der zum Teil phantasievollen Kleidung der jugendlichen "Belagerer" der Klagemauer zu haben. Er kommentiert sie wie an einem fasnächtlichen Kostümfest. "Lueg dr ander", ruft er beispielsweise angesichts eines sich in einem historischen Feuerwehrkittel gemütlich neben dem Museumseingang mit einem Kriminalroman niedergelassenen Jünglings aus; "wie-n-e alte Fürwehrkorporal!" A propos Kriminalromane: Solche Literatur scheint auf der Klagemauer eher rar zu sein. Ich höre von Fotokopien des roten Schülerbüchleins und von Mao-Lektüre.

Morgentoilette

Die meisten "Stammgäste" sind Schülerinnen und Schüler der umliegenden Schulen. "Früher trafen sie sich auf der 'Schatzinsel', auf dem Casinoplatz", weiss Herr Steinegger; "doch nachdem das 'Lässige' mehr in Mode gekommen ist, haben die Jungen ihren Treffpunkt auf die unkonventionellere Klagemauer verlegt." Ausserdem konnte man im vergangenen Sommer zuweilen ausländischen "Hippies" begegnen - Steinegger erinnert sich an Deutsche, Holländer, Engländer und Österreicher. Nicht selten übernachteten sie an Ort und Stelle, und anderntags verrichteten sie am Brunnen auf dem Barfüsserplatz  ihre Morgentoilette.