Diese Reportage über den für nächtliche Durchreisende ungastlichen Basler Bahnhof SBB erschien im Januar 1971 im „doppelstab“


 Hunger, Durst und Kälte

Von Felix Feigenwinter


Basel liege an der „Dreiländerecke“ und sei das „Goldene Tor der Schweiz“, wurde uns in der Schule immer wieder zu verstehen gegeben. Den Touristen, die unsere Stadt besuchen, werden die Dreiländerecke und der Rheinhafen denn auch als Sehenswürdigkeiten vorgestellt, neben den zwei Dutzend Museen, der Pfalz mit dem Münster am Rheinknie, den Rheinfähren, dem Spalentor, den internationalen Messen, der Fasnacht, dem zoologischen Garten.

Nun gibt es aber Gäste, die das „Goldene Tor der Schweiz“ nur ganz flüchtig besuchen - als Durchreisende. Doch auch ihnen bleibt Basel in Erinnerung haften: Als Strassenzollamt, als Flughafen oder/und als Grenzbahnhof. Und je nach dem Eindruck, der ihnen die wenn auch nur oberflächliche Berührung mit „Basel“ vermittelt, fällt ihr Urteil über die Stadt und ihre Bewohner aus. Ob Basel eine für Gäste attraktive oder höchst abschreckende Stadt ist, mag zwar manchen selbstgenügsamen „Bebbi“ nicht interessieren. Er hält das fast schon sprichwörtlich gewordene Desinteresse gegenüber Ausländern nicht für „fremdenfeindlich“, sondern für Bescheidenheit und insofern für eine Tugend. Die Gäste freilich urteilen natürlich anders. Sie wissen zu unterscheiden zwischen ungastlicher Provinz und einem Ort, wo sich auch Gäste wohlfühlen. Wegen seiner geographischen Lage ist Basel Grenzstadt. Ist die Provinzstadt dieser Anforderung gewachsen? 

Um es an einem Beispiel zu erfahren, begaben wir uns kürzlich um Mitternacht in den Bahnhof Basel SBB. Wo und wie verbringen hier die wartenden Durchreisenden die Nacht?


Kein Abschiedskaffee nach Mitternacht

Im Gang zwischen den beiden Schalterhallen SBB und SNCF trafen wir auf eine Gruppe von Wartenden, die offensichtlich Abschied nahmen. Es stellte sich heraus, dass zwei Väter, eine Mutter und ein Bruder aus drei verschiedenen Familien drei Töchtern gute Wünsche mit auf den Weg gaben, bevor die Mädchen im SNCF-Bahnhof den Zug bestiegen, der um 00.50 Uhr nach Calais (Endziel: London) abzufahren hatte. Die Baslerinnen besuchen in England ein Institut. „Wäre das Bahnhofbuffet nicht schon geschlossen oder gäbe es nach Mitternacht im Bahnhof wenigstens eine kleine Kaffee-Bar, die noch offen hat, könnte der Abschied in einem etwas gemütlicheren Rahmen stattfinden“, meinte eines der im kalten Durchzug stehenden Familienmitglieder. Und Georg Imgruth, der Bruder eines der drei Mädchen, benützte die Gelegenheit, um die Erinnerung an ein noch unerquicklicheres Erlebnis wachzurufen, das ihm der Basler Bahnhof vor einigen Jahren bescherte: „Ich wohnte damals in Luzern und kam in einer frostigen Winternacht verspätet aus dem Ausland in Basel an. Das Bahnhofbuffet und sogar die Wartesäle waren geschlossen. Da blieb mir nichts anderes übrig, als einige Stunden in den kalten Bahnhofhallen auszuharren, bis ich am Morgen einen Zug nach Luzern besteigen konnte“.


Verzweifelte Mutter, weinendes Kind

Reisende, die infolge Verspätungen mitten in der Nacht im Bahnhof Basel SBB eintreffen, sind wirklich aufgeschmissen. Wir erlebten es keine Stunde später mit erschreckender Eindrücklichkeit.

Im neuen Warte- und Abfertigungsraum beim Eingang zum SNCF-Bahnhof – im „Charter-Air-Terminal“ - wollten Armida Bianchi und Nora Kristen vom Basler Büro des Schweizerischen Studentenreisedienstes ihr reich befrachtetes Tagewerk eine Stunde nach Mitternacht beenden, das sie Tags zuvor morgens um neun Uhr begonnen hatten. Der sauer verdiente, unter anderem wegen der Bedienung von Reisenden für den Calais-Nachtzug um etliche Stunden verzögerte Arbeitsschluss wurde ihnen aber gründlich verdorben. Kurz vor ein Uhr, bevor sich die übermüdeten jungen Damen endlich auf den Heimweg machen wollten, strömte plötzlich eine grosse Schar verstörter Reisender in den Bahnhof: Engländer, Franzosen, Deutsche. Sie waren soeben von einem um viele Stunden verspäteten Flug via Airport im Bus beim Bahnhof eingetroffen und erhoben Anspruch auf einen warmen Aufenthalt, bis am Morgen der erste Zug für die Weiterreise bereitstünde. Armida Bianchi und Nora Kristen versuchten vergeblich, die Ankömmlinge aus dem „Charter-Air-Terminal“ hinauszuweisen. Die Reisenden wollten nicht begreifen, dass in einem Grenzbahnhof im Winter nachts kein geheizter Warteraum zur Verfügung steht. Aber die offiziellen Wartesäle waren wie gesagt längst geschlossen. Und auch die letzte vorgesehene Lösung, die Menschen in einen geschlossenen beheizten Raum  einsperren zu lassen, erwies sich ebenfalls als unmöglich:  Der Versuch, mit dem dafür zuständigen Stationsbüro zu telefonieren, scheiterte; niemand meldete sich. Die beiden SSR-Damen waren offensichtlich die einzigen im Bahnhof, die den Reisenden noch helfen konnten.

Die Studentin Nora Kristen vom Reisedienst erklärte: „Wir sind den Vierundzwanzigstunden-Tag zwar gewöhnt, aber zwischendurch sollten wir manchmal doch auch schlafen gehen können. Morgen früh muss ich um neun Uhr wieder auf meinem Posten sein.“

Doch angesichts einer in der Bahnhofshalle auch noch auftauchenden verzweifelten Engländerin mit weinendem Kleinkind und schwerem Koffer nebst Kinderfahrrad wurde beschlossen: „Wir bringen sie alle zum SSR-Büro an die Friedensgasse“. Im Auto der Studentin und in Taxis wurde die ganze internationale Gesellschaft an die Friedensgasse gefahren, wo warme Öfen, dampfender Kaffee und Musik die ausgestandenen Qualen vergessen machten und die Stunden bis zur Weiterfahrt nach Frankreich und Deutschland gastlich überbrückten.

Aber auf derartige freiwillige Zufalls-Hilfe können verspätete Durchreisende in Basel nicht immer hoffen. In der Regel bleiben sie im nächtlichen gastfeindlichen Bahnhof bis zur Öffnung von Wartesälen und Buffet der Kälte und sich selber überlassen.


Hinter Glas eingesperrt 

Neben Durchreisenden, die Zugs- oder Flugverspätungen zum Opfer gefallen sind und unfreiwillig die Unfreundlichkeit von Basel SBB by night erfahren müssen, gibt es erfahrungsgemäss jede Nacht auch Fahrgäste, die bewusst einige Stunden nächtlichen Aufenthalt im Bahnhof in Kauf nehmen, ohne allerdings damit zu rechnen, im Bahnhof einer internationalen Grenzstadt entweder in ein kleines Glashaus ohne Verpflegungs- und Erfrischungsmöglichkeiten und ohne Toilette während über drei Stunden eingesperrt zu werden – oder die ersten Morgenzüge in den alles andere einladenden kalten Bahnhofshallen abwarten zu müssen.

In der Regel zwischen halb ein und vier Uhr nachts können wartende Durchreisende im Bahnhof Basel SBB tatsächlich von einem Bahnhofbeamten wie Gefangene in eines der neuen Wartehäuschen aus Glas eingesperrt werden (sofern dieser Bahnbeamte gerade erreichbar ist...) Dort sind sie zwar wenigstens in der Wärme, doch haben sie keine Möglichkeit, sich während der mehrstündigen Wartezeit eine Erfrischung oder Stärkung zu beschaffen, geschweige denn aufs „Hüsli“ gehen zu können.

Ein Beamter vom Stationsbüro versicherte mir zwar: „Bevor wir sie einschliessen, machen wir sie mit ihrem bevorstehenden Schicksal vertraut. Sie müssen also nicht, wenn sie nicht wollen.“ Ist das nicht ein schwacher Trost, klingt gar zynisch? Die Alternative zur Gefangenschaft ist wie gesagt das Warten in der Kälte.

An Viehtransport erinnert 

Nun kann man finden, Reisende sollten in der Nacht nicht auf dem Bahnhof, sondern im Hotel übernachten. Aber Basel ist Grenzstadt, hat Grenzbahnhöfe. Auf diesen werden die Reisenden nachts „menschenunwürdig“ behandelt, empörte sich eine deutsche Touristin. Und ein Engländer meinte spöttisch, die Sache mit dem Eingeschlossenwerden erinnere ihn an den Transport von Vieh.

Was meint dazu der Basler Verkehrsdirektor?