Das Rätsel Ottokar

von Felix Feigenwinter

 

Früher, als Ottokar noch Meerschweinchenzucht betrieben hatte im elterlichen Garten: die Tierchen, in der Kleinkinderschule gegen Vaters Militärmesser eingetauscht, im Komposthaufen sich königlich vermehrten, in Einerkolonne an Löwenzahn vorbei den väterlichen Salatbeeten zustrebten, wo sie für Stunden weidend verweilten, hatte er Vater wie Mutter an den Rand der Verzweiflung getrieben mit seinem Wunsch, Sträfling zu werden, was der Vater, Steuerbeamter in der siebzehnten Besoldungsklasse, empörend fand. Eine Beamtenlaufbahn war Ottokar als trüber Lebensinhalt erschienen, vorzeitige Pensionierung, Einteilung in höhere Besoldungsklassen: die häufigsten Gesprächsthemen am Familientisch, ausweglose Aussichten. In Sträflingen hingegen mussten ungeahnte Möglichkeiten schlummern: Sie lösten Furcht aus! Die Mutter hatte den Umgang mit ihnen verboten, wenn sie nach getaner Arbeit unter der Aufsicht eines blaubehosten Wärters sich stärkten in der Nähe des elterlichen Hauses; sie hegten Fluchtgedanken, hofften auf Erlösung, kämpften für Freiheit, dachte Ottokar. Ein kämpfender Beamter hingegen war absurd, ebenso Vater auf der Flucht. Der marschierte nur immer aufs Steueramt mit seiner kargen Miene, gehorsam um halb acht und mittags um halb zwei, trug keine Fluchtgedanken mit sich herum, überhaupt keine Gedanken vielleicht, ewig dasselbe trostlose Gesicht vielmehr. Manchmal begleitete ihn Ottokar auf halbem Weg, stumm, denn Vater war ein wortkarger Mann; ein tapferer, hatte die Grossmutter gesagt.

Als einmal müder Nebel über die Wiesen kroch, zog Ottokar einen Leiterwagen neben Vater her, setzte sich darein auf abfallender Strasse: glaubte, Vater würde hinten halten; sah sich um: suchte vergeblich nach Vater, der hatte eine Abkürzung eingeschlagen, schweigsam einen Fussweg betreten, hatte nicht gemerkt, dass Ottokar gegen eine verkehrsreiche Strasse raste, Trams und Autos vorbeiflitzten. Ottokar sah mit zunehmender Deutlichkeit, dass er in wenigen Augenblicken krachend den Verkehrsstrom unterbrechen würde (einbiegen, sich eingliedern war unmöglich bei der Geschwindigkeit, den Leiterwagen würde es überschlagen in der Kurve). Ottokar griff an die Hinterräder, spritzte Hautfetzen an die scheuernden Speichen und Fingerblut, steuerte auf den Gehsteig zu. Der Wagen schmetterte gegen eine Verkehrsstange, der Kleinkinderkörper auf den Asphalt; die Gefahr indessen war gebannt, wenige Meter vor der Einbiegung unterbrochen die drohende Fahrt. Der Vater stand ärgerlich unten, sagte, wo bleibst du so lange nur, schalt wegen der zerschlissenen Hose.

Des kleinen Ottokars Sträflinge aber erschienen frühmorgens Sensen wetzend auf Herrn Peters Wiesen: weckten Grashalme niederratschend späte Schläfer, fällten Mattenstücke in der zunehmenden Sonnensenge, scheuchten Schmetterlinge auf und Heuschrecken, schlugen Grillen zur Flucht, tranken kühlenden Most unter wehendem Laub und verschwanden aus der brodelnden Sommerglut in ihrem beschatteten Kantonsgefängnis, weite Graswüsten hinterlassend auf den Parzellen Herrn Peters, dem eine Zementfabrik gehörte, eine ausgedehnte Gärtnerei überdies, die ewige Frühmorgenstimmung ausbreitete mit ihren gläsernen Treibhäusern, ein umfangreicher Sportplatz sodann, worauf Glieder eines städtischen Turnvereins geduldet wurden an bestimmten Wochenabenden, im übrigen jedoch Herr Peter persönlich Stabhochsprung übte. Wenn Dieti, Herrn Peters Sohn, mit spitzem Stab heraustrat in die Dämmerung, bog Herr Peter selbst bald in schwarzem Trikot aus dem Gartentor, unternahm Laufen an Ort mit anschließendem Blitzstart und Spurt über kurze Distanz als vorbereitende Maßnahme, ergriff den Stab vor den ehrfürchtigen Zuschauern: Beamten und Arbeitern aus dem Quartier, setzte mehrmals zum Sprung an, bevor er den zierlichen Körper endgültig hinaufschwang in die laue Abendluft, riss, wie immer, die Latte in die sandige Tiefe, entschwand der dankbar applaudierenden Menge mit federndem Schritt und stolz erhobenen Hauptes. Ottokar hatte die unvermögenden Schritte stets als peinlich empfunden, Hohngelächter befürchtet - das hätte sich schlimm ausgewirkt angesichts Herrn Peters göttlicher Stellung im Quartier! Doch die Leute fanden lobende und bewundernde Worte, die Sprünge trotz der sirrend stürzenden Latte beachtlich für sein Alter.

Bezeichnend war Herrn Peters Jagdhund sodann: Flippimänni, ein krummbeiniger Dackel mit spitzbübischem Aussehen, der hin und wieder in Ottokars Garten sich verirrte, an einem Meerschweinchen sich vergriff, hauptsächlich aber Herrn Peters Weidenstauden am Bachufer überwachte, einen Frevler aufspürte eines Sonntagmorgens, einen Insassen des städtischen Altersheimes, den Dieti, Herrn Peters Sohn, aus dem Quartier verjagte, ihm weitere Aufenthalte in der Gegend verunmöglichte: Kleinkinderschüler auf ihn hetzte, die im Chor Weidenstehler Weidenstehler brüllten. Herr Peter jagte auch Ratten, die am Bachufer nisteten, verstand sich aber schlecht aufs Schiessen: oft entwischten die Tiere unversehrt oder mit Streifschüssen im Geäst, selten nur klatschten sie getroffen ins Wasser und hüllten sich in dumpfe Wolken. Später verschwanden die mähenden Sträflinge von den Wiesen, sie übten sich im Korbflechten, und Ottokars frühe Zukunftspläne zerschlugen sich angesichts neuer, verwirrender Ereignisse.

 

II

Die Flucht auf den Münsterturm hatte Ottokars Existenz am Humanistischen Gymnasium bedroht: der Lateinlehrer hatte Manneszucht bemängelt, was Ottokar kalt ließ, da er noch ein Binggis war in der zweiten Gymnasialklasse und kein Mann, gar keiner sein wollte, noch nicht; Ausschluss aus der Schule ließ sich immerhin vermeiden, wäre auch peinlich gewesen: der Jugendpsychiater hatte ein Wort mitgeredet, hatte Ottokar zugezwinkert in jenem farbigen Sprechzimmer mit den Kinderzeichnungen, überhaupt sehr vertraulich getan: das lässt sich schon einrenken. Die Strafklasse nahm Ottokar gern in Kauf, auch die schlechte Note im Latein, nur den Vater bemitleidete er, der fand es beschämend, und die Mutter, die weinte, grundlos, denn sechs Jahre später bestand Ottokar eine glänzende Matura: rechtfertigte, desavouierte. Nachträglich erschien Ottokar die Flucht ohnehin begründet, durchaus notwendig, vernünftig auch, der Münsterturm der naheliegendste Ausweg aus dem Dilemma: thronte der doch gerade neben dem Schulgebäude; Ottokar trieb es einfach hinauf; er schaffte damit Demütigungen, lästige Erklärungen aus dem Weg: er hatte nichts gelernt, keine Verben, keine Deklinationen repetiert, geschweige denn Konjugationen, hatte in der Zehn-Uhr-Pause erst erfahren vom drohenden Unheil; der Lateinlehrer Fides musste die Schriftliche schon vor vier Tagen angekündigt haben. Ottokar sah den roten Sandstein glimmen in der Morgensonne, lauerte auf die passende Gelegenheit: eine Unaufmerksamkeit des beaufsichtigenden Lehrers, der hatte auch nur zwei Augen; im günstigen Augenblick fixierten sie einen erhitzten Bubenknäuel. Da hieß es einschreiten: energisch, autoritär, die alten Griechen und Römer hatten auch gekämpft, liessen aber Manneszucht walten, achteten edle Beweggründe, jene Rauferei entbehrte humanistischer Grundsätze, nahm pöbelhafte Formen an: entehrte den würdigen Schulhof. Ottokar wusste das zu nutzen, entwich feixend durch das Tor, stieg in den mächtigen Turm ein, erkletterte den muffigen Schacht auf knarrenden Holztreppen, die befreiende Höhe auf Sandsteinstufen: ausgetretenen, verwitterten, war Herr über die Situation jetzt, konnte dem Polizeiwachtmeister, der dort untern untätig herumstand, ungesehen auf den Helm spucken beispielsweise, sogar pinkeln, wenn er wollte, sah auf dem entfernten Marktplatz Hausfrauen Kohlköpfe aussuchen, die grünen Schürzen der Marktfrauen blinkten in der Sonne, schweifte über Hinterhöfe und Hausdachspitzen, beobachtete Sekretärinnen, die klatschten statt schrieben, Süssigkeiten verzehrten zwischen den Diktaten. Er stand mit dem lieben Gott auf du und du, lenkte sein allmächtiges Auge steil hinunter, zum Fenster seines Klassenzimmers: dort sah er den Lateinlehrer Fides zwischen den Bänken amten, humanistische Blicke um sich werfen,  bemerkte einen Schüler, sein Vordermann sonst, unter die Bank schielen, wo das Lateinbuch offen dalag: Fides konnte es nicht entgangen sein, sonst war er dumm; er unternahm aber nichts, der war eben Primus, sah erneut unter die Bank: ungestraft! Fides hatte einen gnädigen Tag offenbar, war freundlich gesinnt, trotz der Schriftlichen.

 

III

Nach bestandener Matur schien Ottokar die Welt zu Füssen zu liegen: der Weg zum Erfolg ist jetzt geebnet, hatte der Vater gesagt. Noch stand die Rekrutenschule bevor, viele Wochen Ertüchtigungsübungen im Kantonnement, auf dem Kasernenhof und im Gelände, im Wald und auf der Wiese -  das formt dich zu einem richtigen Mann, hatte der Vater gesagt, zu einem richtigen Mann! Ottokar war wild entschlossen, hörte gut auf seinen Korporal und seine Offiziere  - er hörte sie vom Feind sprechen (nein, brüllen!), ständig vom Feind; obwohl Ottokar alle Menschen liebte wie sich selbst. Doch das war jetzt vorbei, da war er noch ein Kind gewesen; jetzt wurde aus ihm ein Mann, ein richtiger Mann.

Der Oberleutnant stand vor ihm, er hatte Züge von seinem Vater, nur war er forscher, vitaler; auch viel jünger, ein dynamischer junger Mann, das konnte man wohl behaupten. Der Oberleutnant schrie ihn an, ihn, dem Sanftmut oberstes Gesetz war; ihn, dessen wackere Meerschweinchen in seinem Garten geweidet hatten. Eines hatte er "Schneewittchen" getauft. An einem kühlen Frühlingsmorgen hatte er sein weißes Fell gefunden, auf einem Kiesweg des Gartens, mit einer dünnen Blutspur am Kopf. Ein Marder hatte es sauber ausgehöhlt. Diese Raubtiere waren oft des Nachts im Garten zu Besuch. Immer wenn Ottokar ein gellendes Pfeifen vernahm, das die nächtliche Stille durchschnitt, in sein Schlafzimmer drang, wusste er: am Morgen würde wieder eines seiner Lieblinge fehlen.   

"Rekrut Ottokar, wie haben Sie Ihren Helm angezogen?! Ihr Helm sitzt ja verkehrt auf Ihrem Kopf! Das gibt es doch nicht! Geschirren Sie sich anständig an! Aber ein bisschen schnell!! Zehnmal Liegestütz, hopp, los, eins-zwei... und jetzt kriechen, hopp, los, tiefer in den Dreck, kriechen, kriechen, schneller, schneller! Nicht träumen, los, kriechen...!"

Ottokar kroch, kroch, kroch. Als er sich endlich erhoben hatte, atemlos, gedemütigt, hörte er den Oberleutnant rufen:

"Los, nochmal, kriechen! Wart, ich will Ihnen schon Beine machen .... hopp, los, Sie Arsch..."

Ottokar war jetzt ganz ruhig, so ruhig wie damals, als er auf den Münsterturm gestiegen war. Er sah dem schreienden Oberleutnant ins Gesicht, er sah ein Monstrum mit Helm, dann sagte er ganz ruhig, geradezu sanft:

"Sie sind mein Feind."

Der friedfertige Ottokar zielte gut mit seinem Sturmgewehr.

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"Das hätten Sie doch viel einfacher haben können", meinte später sein Verteidiger vor der Gerichtsverhandlung, "wenn Sie den Militärdienst verweigert hätten, hätte man Sie nur ein paar Monate eingesperrt und Sie müssten nicht jahrelang im Zuchthaus verbringen."

Doch Ottokar beharrte darauf; der begrabene Oberleutnant war sein Feind gewesen, da war nichts zu machen. Und als das Gerichtsurteil ausgesprochen war: Lebenslänglich, da verklärte sich Ottokars Gesicht. Mit einem Lächeln, das tiefste Befriedigung auszudrücken schien, verließ er den Gerichtssaal.

 

Diese Erzählung wurde 1978 unter dem Titel "Ottokars Flucht" in der Textsammlung "Merkwürdige Geschichten aus Basel" (Mond-Buch Verlag Basel) veröffentlicht. Eine erste Fassung der Geschichte schrieb der Autor bereits im Jahr 1960.