Strassenverkehrsopfer - "Baslerstab" 6. Juli 1982


Verdrängungen

Von Felix Feigenwinter

"Wer im Strassenverkehr mitmacht, steckt schon fast mit einem Bein in einem Verkehrsunfall." Den Satz las ich kürzlich in einer Anzeige für eine Broschüre, die richtiges Verhalten nach einem Verkehrsunfall nahegegt. Gemäss Statistik sind in der Schweiz im vergangenen Jahr 800 Männer, 279 Frauen und 86 Kinder bei Verkehrsunfällen getötet worden. Das sind 1165 Menschen. Von Verkehrsfachleuten wird diese Zahl als Fortschritt bezeichnet. Tatsächlich ist sie kleiner als 1980: Sie nahm um 6,5 Prozent ab. Trotz permanenter Erweiterung des Verkehrsvolumens verminderte sich die Zahl der Verkehrsunfallopfer, wobei allerdings die Unfallzahl um ein Prozent anstieg.
 

Wenn man darüber nachzudenken beginnt, in wie vielen Familien menschliches Leid der gewaltsame Tod von 1165 Angehörigen - darunter 86 Kinder - herbeigeführt hat, so nimmt diese Verkehrstoten-Statistik eine ungeheuerliche Perspektive an. Entsetzen, Verzweiflung und Trauer lassen sich statistisch nicht erfassen. Das gilt auch für die Erfahrungen der Familien mit Schwerverletzten. (Die Zahl der Verletzten auf Schweizer Strassen wird für 1981 mit 31600 angegeben.) Hingegen lassen sich die Kosten ausrechnen, die der Spitalaufenthalt solcher Verkehrsopfer verursachen. Und die Kosten für die langfristige Betreuung der in der Folge von Strassenunfällen Behinderten, die Gesamtsummen für die Ausrichtung von Invalidenrenten, Hilflosenentschädigungen und Ergänzungsleistungen. Ein Aspekt, über den man in der Öffentlichkeit wahrscheinlich immer noch zu wenig nachdenkt.
 

Psychologisch ist es sicher begreiflich, wenn sich viele Menschen angesichts solch erschreckender Zahlen schauernd abwenden, dem Ganzen wie einem fürchterlichen "Naturereignis" begegnen, gegen das nur noch Ignoranz zu helfen scheint. Solche Verdrängungen verhindern möglicherweise panische Reaktionen. Aber sie lösen selbstverständlich keine Probleme.
 

Der Strassenverkehr - und mit ihm die Verkehrstoten und -verletzten - ist eben kein "Naturereignis" wie beispielsweise ein Erdbeben. Den Strassenverkehr haben Menschen gemacht. Um so monströser wirkt die Zahl der Opfer. Nur sehr mühsam gelingt es den "Verantwortlichen" - sind aber nicht wir alle verantwortlich, auch jene (und gerade jene), die nur "zuschauen"? - , durch diverse Massnahmen wie beispielsweise die Einführung von Gurten die blutigen Zahlen nicht weiter ansteigen zu lassen. Schon ein Absinken um nur wenige Prozent wird als Erfolg gewertet. (Dass die Zahl der im Strassenverkehr getöteten Fussgänger aber 1981 nicht ab-, sondern zugenommen hat, übersieht man dabei leicht...) Oberflächlich betrachtet sieht es so aus, als ob "man die Sache in den Griff" bekäme. Verhältnismässig stimmt das irgendwie auch. Nur: Die vielen tausend Betroffenen im Jahr - die Toten, die Querschnittgelähmten und ihre Angehörigen - merken nichts davon. Sie gehören zum "Blutzoll", der in der Verkehrsplanung sozusagen einberechnet ist.
 

Weil die Mehrheit der Gesellschaft davon weitgehend verschont bleibt (von der finanziellen Belastung des Staates einmal abgesehen), wird sich dieser sozial unheimliche Zustand kaum ändern.