Besuch beim Geier

Von Felix Feigenwinter

 

An einer Schnur, die von der kleinen Hand eines Mädchens gehalten wurde, schaukelte ein gelber Luftballon, der an eine Banane erinnerte, jedoch die Mondsichel darstellte. Der Ballon war mit dunkelblauen Sternchen dekoriert. Er schwebte zwischen den Köpfen der Gäste und dem immer noch grünen Laub der Bäume, die das Boulevardcafé säumten. Eine dunkle Wolkendecke überzog den Himmel, aber es regnete nicht.

Die Mutter des Kindes, das den Ballon hielt, sprach mit einer anderen jungen Frau; beide Frauen waren Florian vertraut. Nach einem langen Spitalaufenthalt trank er zum erstenmal ausserhalb der Klinik als Rekonvaleszent einen Espresso in der Stadt. Während der vergangenen Tage und Nächte hatten ihn diese Frauen im Krankenhaus betreut, seine Operationsschmerzen mit tröstenden Bemerkungen, liebevollen Berührungen und der Verabreichung heilender Pillen und Spritzen besänftigt. Als Florian gestern morgen das Spital verlassen musste, fühlte er sich traurig gestimmt. Beim Abschied hatte er sich für die erwiesene Hilfe herzlich bedankt, doch als sich eine der Pflegerinnen nach seinem Befinden erkundigte, verschwieg er seinen Schmerz.

Nun erhoben sich die beiden, die er von seinem Spitalaufenthalt kannte und die hier ihre Freizeit verbrachten, um mit dem Kind und dem gelben Ballon das Boulevardcafé zu verlassen. Florian winkte, aber die Frauen schienen ihn nicht zu erkennen, was ihn nicht erstaunte, da er mit Mütze, Brille und Mantel gewiss anders aussah als die hilflos im Spitalbett liegende Kreatur. Die Pflegerinnen hatten ihn als schwer Verwundeten nackt oder ins bleiche Spitalhemd gehüllt in Erinnerung; der gewöhnlich verkleidete, Espresso schlürfende ältliche Herr im Boulevardcafé musste ihnen fremd erscheinen.

Obwohl er sich immer noch verletzt und schwach fühlte, spazierte er am späten Nachmittag vorsichtig durch den zoologischen Garten. Vor dem Gehege, in dem seit vielen Jahren ein Bartgeier gefangen war, verweilte er länger als gewöhnlich, nachdem ihn dieser grosse Vogel zum erstenmal, seit er ihn besuchte, begrüsst hatte, gezielt auf ihn zuschritt und wenige Meter vor ihm verharrte, um ihn aufmerksam zu mustern. Andächtig bewunderte der gegen das Versiegen seiner Lebenskraft kämpfende Florian das Gefieder des gefangenen Tiers, versuchte dem auf ihn konzentrierten und, wie ihm schien, nicht nur gierigen Blick zu widerstehen. Bevor er endlich weiterging, verbeugte er sich ehrfurchtsvoll. Der Aasfresser erwiderte die Geste tänzelnd, mit heftigem Flügelschlagen.

 

November 2006