Nachtarbeit

Von Felix Feigenwinter

Beat Vaterlaus trifft keinen Menschen mehr im obersten Stock des Verlagshauses, wo er sich nach einem hektischen Tag in Konferenzzimmern und auf Reportagefahrt in seine Redaktionskammer verkriecht.

Der Papierkorb ist bereits geleert, und die glänzende Platte des Schreibtischs mit dem blanken Aschenbecher verrät, dass das Büro geputzt wurde. Er stellt sich vor, wie Frau Angst in einem der unteren Stockwerke herumwischt - eine unverheiratete Frau, die zuhause für eine Tochter zu sorgen hat. Beim Gedanken daran beschleicht ihn etwas wie schlechtes Gewissen: Geisterhaft taucht das Gesicht der Putzfrau vor ihm auf (dieser schmerzliche flackernde Blick, der ihm letzte Woche im Traum erschien, aus dem er in tiefer Nacht zitternd aufschreckte - eine Verwirrung, nach deren Bedeutung er vergeblich rätselte); aber wie so oft verwischt er das Unbehagen über fremden Kummer, indem er sich in die aparten Sorgen seiner eigenen Existenz vertieft.

Der Nachtredaktor würde viel später, gegen Mitternacht, eintrudeln; so würde er, schätzt Vaterlaus, ungestört arbeiten können. Aus Erfahrung weiss er, dass er sich nach zwei, drei Stunden nach Ruhe sehnen wird. Heute, so rechnet er sich aus, würden zwei Stunden genügen, um die Arbeiten zu erledigen, die er sich vorgenommen hat.

Da sieht er den gelben Zettel, den ihm Frau Hasenfratz, die Redaktionssekretärin, auf die Agenda gelegt hat. Für den Besuch der Pressekonferenz des Frauenschutzvereins von heute abend habe kein Berichterstatter gefunden werden können; wenn die Sache wichtig sei, könne vielleicht er selbst hingehen - sonst wolle sie morgen vom Frauensekretariat Unterlagen anfordern oder telefonisch recherchieren, teilt Frau Hasenfratz mit.

Vaterlaus spürt sein Herz hämmern. Einen Herzinfarkt will er nicht erleben, nicht jetzt, nicht hier. Mit ihm hat dieses Büro doch eigentlich nichts zu tun! Lieber möchte er auf einem Spaziergang sterben, in einer Landschaft, wo Sonnenlicht oder Mondschein Baumschatten werfen. Während der heutigen Mittagspause, die lächerlich kurz war, ist ihm wieder bewusst geworden, wie öd die Gegend geworden ist, wo er aufwuchs. Die einst grün bewachsene Erde, auf der er unter Bäumen spielte, ist zubetoniert, asphaltiert. Persönliche Erinnerungen, Gefühle werden weggeplant. Die zarten Frühlingsmorgen, die schattigen, beglückend trägen Sommernachmittage - man hat sie zerstört. Die nachdenklichen Herbste, die stillen Wintertage  - ausradiert. Ein Stück seiner Seele hat man gerodet.

Er steht auf, geht zum Fenster und starrt durch die Gardinen in die Hinterhöfe, auf die gegenüberliegenden Hausdächer, die er vergeblich nach Schnee absucht. Viele klagen über Kopfschmerzen und Depressionen, auch die Redaktionssekretärin.

Vaterlaus öffnet einen Fensterflügel. Gierig atmet er die Abendluft ein. Ein sonderbarer Winter. Er erinnert sich an die Kindheit; an knöchelhohen Schnee, durch den er zur Schule watete. An Schlittenfahrten, an die schmerzend kalten Füsse und Hände, die er zusammen zuhause mit seinen Geschwistern am Kohlenofen aufwärmte.

Dann kehrt er zum Schreibtisch zurück. Das Fenster steht sperrangelweit offen, und über den Dächern hasten Wolken vorbei; trotzdem fühlt er sich erhitzt. Er zieht seine Jacke aus und hängt sie über die Stuhllehne, versucht, sich zu erfrischen, indem er die Luft, die durchs Fensterloch ins Büro strömt, langsam und tief einsaugt. Dabei kommt er sich wie ein Waldläufer vor - eine Vorstellung, die ihn erheitert. Spontan fällt ihm eine Schlagzeile ein, die er laut vor sich hinsagt:  "Der einsame Kicherer im Abenddämmer"; doch kaum ist es ausgesprochen, findet er es albern, eine absurde Phantasiewucherung, eine Verkrümmung seiner Gedanken, die ihm zu denken gibt. "Wäre blöd, jetzt überzuschnappen, niemand würde es merken, ausser ich selber", hört er sich murmeln; aber diese Feststellung kommt ihm noch wunderlicher vor.

Vaterlaus beginnt, den Schreibtisch aufzuräumen. In zwanzig Minuten beginnt die Pressekonferenz des Frauenvereins; da wird er selber hingehen: er delegiert schlecht, er ist kein Chef. Mit hochgeschlagenem Mantelkragen und einem Mäppchen unter dem Arm hetzt er aus dem Verlagshaus und taucht in den Abend, der nichts Winterliches an sich hat. Unterwegs, auf einem Fussgängerstreifen, irritiert ihn der artige Gruss eines älteren, ihm nur flüchtig bekannten Ehepaars: "Adie, Heer Doggter!"; eine verschwommene Erinnerung an seine Rolle als Lokalredaktor. Hoch über der Stadt wird eine Wolke zerrissen; es erscheint ein grosser runder Lampion, dessen weisslicher Schein sich auf der Glasscheibe eines auf einen mittelalterlichen Turm gerichteten, nicht eingeschalteten Scheinwerfers spiegelt. In einer Häuserschlucht, durch die er jetzt geht, nähert er sich drei Frauen, die an einer Strassenkreuzung warten. Die eine ruft: "Hallo, Schätzchen!" Vaterlaus lächelt und wechselt, noch bevor er sie erreicht, ausweichend die Strassenseite. Einige Häuser weiter, in der Parallelgasse, betritt er einen Gang und klopft an eine Tür; dahinter erwarten ihn die Damen des Frauenschutzvereins.

Zu seiner Überraschung dauert die Pressekonferenz nicht viel länger als eine halbe Stunde. Als einziger Mann inmitten einer kleinen femininen Zuhörerschaft lauscht er den anklagenden und entschlossenen Worten zweier Frauenrechtlerinnen über die Prostitution weiblicher Sexualität. Die Schilderungen über die Schwierigkeiten von unverheirateten und geschiedenen Müttern und deren Kindern machen ihn sprachlos. Für einen Moment versinkt er in Erinnerungen an seine frühere Frau, von der er längst geschieden ist; dann fühlt er sich zunehmend müder, ausgelaugt, so dass er das abschliessende Diskussionsangebot zu seinem eigenen Bedauern ungenützt verstreichen lässt.

Wieder auf der Strasse, sucht er vergeblich nach dem Mond zwischen den Wolken. Traumwandlerisch, wie auf der Flucht, irrt er durch einen Eingang, aus dem der Gesang von  Billie Holliday weht. An der Bar bestellt er einen Zweier Weissen. Verklemmte Männerblicke treffen ihn durch Zigarettenqualm; ein Betrunkener pöbelt die Bardame an. An der Theke erkennt er unter einer Gruppe anderer Frauen die Gestalten, die er auf dem Weg zur Pressekonferenz gesehen hatte; wieder grüssen sie ihn. Dann, unerwartet, das abgehetzte Gesicht von Frau Angst, ihr verletztes Lächeln; im schummerigen Licht des Lokals wirkt es weicher als sonst. Zuerst weicht ihr Blick wie erschrocken aus; nachher scheint sie ihm zuzunicken; die Bestürzung bleibt.

Vaterlaus bezahlt, verlässt die Theke und verabschiedet sich mit einer versteckten Handbewegung. Er verscheucht den ihm unangenehmen Gedanken, Frau Angst verdiene ihren Lebensunterhalt nicht nur als Putzfrau, sondern auch als Prostituierte (da er sie an der Bar eben gesehen hat, stellt er sich vor, dass sie vielleicht wie er nach der Arbeit zufällig hierhin geraten sei).

Zurück im Redaktionsbüro versucht er zu vermeiden, weiterhin an Frau Angst zu denken. Er spannt ein Blatt Papier in die Schreibmaschine und will sich auf die Pressekonferenz konzentrieren, um den Bericht für die morgige Ausgabe zu schreiben.

Ein Würgen verhindert die Arbeit; ein Weinkrampf überwältigt ihn - ein kurzes heftiges Heulen durchdringt die Bürokammer. Als er wieder in seine Rolle zurückzufinden sucht, staunend in seine Einsamkeit hineinhorcht, bemerkt er, dass das eingespannte Papier, über das er seinen Kopf gebeugt hat, tränennass ist, aufgeweicht, ungeeignet, getippte Buchstaben aufzunehmen.

Vaterlaus erhebt sich, geht zum Schalter neben der Tür und knipst das elektrische Licht aus. Es drängt ihn, im Dunkeln zu sitzen, eins zu werden mit der Finsternis. Doch wie er sich zum Schreibtisch zurücktasten will, überrascht ihn der Schein des Monds, der über milchig schimmernde Dächer geradewegs zu ihm ins Büro schimmert.

 

 

Diese Erzählung wurde erstmals in der Literaturzeitschrift Poesie 1985, Heft 2 veröffentlicht.